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Lersch

Zur Thematik der Strebungen und Gefühle

Von Alfred Gessl

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Wille zur Lust

Wille zur Macht

Wille zum Sinn

Genussstreben

Die Gefühle (allgemein)

Gefühle des Genussstrebens

Tätigkeitsdrang

Erlebnisdrang

Frohe und unfrohe Gefühle

Entzücken und Entsetzen

Dauerhafte Gefühlszustände

Heiterkeit und Lustigkeit

Traurigkeit und Missmut

Stimmungsschwankungen

Leibliche Gefühlszustände

Angst

Furcht

 

Selbsterhaltungstrieb

Gefühle der Selbsterhaltung

Besitzstreben

Machtstreben

Gefühle des Machtstrebens

Eigenmachtgefühl

Geltungsdrang

Selbstwertgefühl

Minderwertigkeitsgefühl

Anspruchsniveau

Vergeltungsdrang

Eigenwertstreben

Gefühle des Eigenwertstrebens

 

Gesellungsdrang

Gefühle des Miteinanderseins

Füreinandersein

Soziale/asoziale Gesinnungen

Schaffensdrang

Wissensdrang

Liebe zu etwas

Liebe zu normativen Werten

Künstlerischer Drang

Metaphysisches Bedürfnis

Religiöses Suchen

Gemüt und Gewissen

Schicksalsgefühle

Optimismus/Pessimismus

Nihilistisches Weltgefühl

Weltgefühl des Humors

 

Der Aufsatz möchte zur Vertiefung der Selbsterkenntnis und Menschenkenntnis beitragen. Er ist ausschließlich zum privaten Gebrauch bestimmt. Jegliche kommerzielle Verwendung ist untersagt.

Ich habe Erkenntnisse aus dem Buch „Aufbau der Person“ von Philipp Lersch, München 1956, die außerhalb des wissenschaftlichen Interessenbereiches schwer zugänglich sind, in geraffter Form für Laien aufgearbeitet, weil ich sie für sehr wertvoll halte und weil ich davon ausgehe, dass das, was ich als Laie verstehe, von allen verstanden werden kann.

Die Antriebserlebnisse – auch Triebe oder Strebungen genannt – steigen spontan aus der Tiefe der Seele auf und bestimmen die thematische Richtung des einzelnen Menschenlebens. Sie können nicht ausgeschaltet werden. Der Mensch soll jedoch trachten, sie verantwortungs­bewusst in den Griff zu bekommen und zu entscheiden, wie weit und in welcher Form sie für das persönliche Verhalten bestimmend werden dürfen. Werden Triebregungen ins Unbewusste verdrängt, so bleiben sie trotzdem virulent, allerdings in unkontrollierter und meist sehr negativer, destruktiver Form.

Die Gefühlsregungen steigen ebenfalls spontan aus der Tiefe der Seele auf. Sie sind die emotionale Antwort darauf, welches Schicksal unsere Antriebserlebnisse erfahren, ob sie erfüllt oder frustriert werden. Auch die Gefühle können nicht ausgeschaltet, aber bewusst verarbeitet werden. Ob und wie diese Verarbeitung gelingt, ist eminent wichtig für die Hygiene der Seele.

Die Vielfalt der Antriebs- und Gefühlserlebnisse kann in drei Themenkreise zusammengefasst werden: der „Wille zur Lust“, der „Wille zur Macht“ und der „Wille zum Sinn“. Mit anderen Worten: es handelt sich um die Regungen des Lebensdrangs, des Drangs zur individuellen Selbstdurchsetzung und des Strebens nach Sinnerfüllung.

Dieser Aufsatz steht unter Motto: Unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in Dir, o Gott.

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Wille zur Lust

 

„Wille zur Lust“ ist die Umschreibung des Lebensdrangs, des unbändigen Strebens, das Leben in seiner ganzen unmittelbaren Fülle voll auszukosten.

Der Lebensdrang hat eine passive und eine aktive Seite – als Genussstreben und als Tätigkeitsdrang – und eine spezifisch seelische Komponente im Erlebnisdrang.

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Genussstreben:

Das ist der spontane Drang, sich einfach wohl zu fühlen, zu genießen, alles was die Sinne zu bieten haben auszukosten: die wunderschönen Bildeindrücke, die das Auge vermittelt, die reiche Welt der Töne, die angenehmen akustischen Eindrücke, die Genüsse des Gaumens, die Vielfalt herrlicher Düfte, all die wohltuenden taktilen Genüsse, vielleicht ein sanftes Streicheln, ein erfrischendes Bad.

 

Die Formen des Genießens umfassen die ganze Bandbreite vom derben Genuss bis zum höchsten ästhetischen Empfinden. Selbst das Denken kann intellektuellen Genuss bieten in der Eleganz der geistreichen und witzigen Pointe.

 

All die Lebenswerte, auf die das Genussstreben gerichtet ist, haben eine wichtige Funktion zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit. Wohlbefinden signalisiert Gesundheit.

Genusswerte können aber, wenn sie sich in der Begierde verselbständigen, schädlich sein und zerstörerisch wirken, etwa in der Begierde nach Alkohol, Nikotin, nach Leckerbissen oder übermäßigem Sex.

 

Das Wohlbefinden, das Genießen kann mehr oder weniger stark beeinträchtigt werden durch Tätigkeiten, die zur Selbsterhaltung und zum Erwerb von Gewinn, Macht und Prestige nötig sind oder die zum Wohl der Gesellschaft oder zur persönlichen Sinnerfüllung dienen. Wer arbeitet, muss eben auf viele Genüsse verzichten.

Das Genussstreben erfüllt im rhythmischen Wechsel mit Arbeit und Leistung eine wichtige Ausgleichsfunktion im seelischen Haushalt, ist also auch ein wichtiger Faktor der seelischen Hygiene. Das Ideal ist eine maßvolle Hingabe an das Genussstreben. Es bietet Lebensqualität und fördert die Gesundheit.

Charakterologisch kann das Genussstreben die ganze Skala durchlaufen zwischen Unterdrückung durch Askese und Übertreibung durch Genusssucht. Maßvolle Askese fördert die Gesundheit und seelisch-geistige Leistungsfähigkeit. Askese kann sich aber auch verselbständigen und hat dann häufig ideologische Motivationen, die irgendeinen Zweck verfolgen.

Ein gewisses Maß an Askese, also an Einschränkung von Genüssen oder teilweisem Verzicht, ist eine natürliche Reaktion bei Menschen, die etwas leisten oder Sinnwerte schaffen wollen.

Das kann zum Beispiel der Fall sein bei einem Manager, die sehr viel Zeit und Energie für das langfristige Gedeihen des Unternehmens einsetzt; bei einem Arzt, der sich nicht schont in der Sorge um seine Patienten; bei einer Mutter, die zum Wohl der Familie auf vieles verzichtet; bei einem Künstler, der vollkommen aufgeht in der Arbeit an einem Kunstwerk usw.

 

In gesteigerter Form wird Genusstreben zur Genusssucht, in der Genießen zum Hauptziel des Daseins wird. Das charakterologische Resultat ist der Genussmensch.

Der Genussmensch setzt den eigenen Genuss vor die meisten anderen Werte. Er lehnt jede Bindung, Verantwortung und Verpflichtung ab. Menschen gegenüber ist er lieblos und ohne Mitgefühl, verhält sich willkürlich und launenhaft.

Der Genussmensch drückt sich vor Arbeit und Leistung, wo er nur kann, hat kein Aufgabebewusstsein und kein Leistungsgewissen. Er ist nicht anstrengungsbereit, sondern bequem, scheut Mühe und Fleiß und kennt keine Strenge und Härte gegen sich selbst. Er arbeitet gerade soviel, als zur Beschaffung von Genussmitteln notwendig ist.

Da es für Genuss und Vergnügen typisch ist, dass das Genossene schnell seinen Reiz verliert, braucht der Genussmensch viel Abwechslung, steht ständig unter dem Zwang, neue und immer stärkere Reize zu beschaffen. Die Langeweile hängt wie ein Damoklesschwert unablässig über ihm.

Eine besondere Spielart des Genussmenschen ist der Epikuräer, ein Genießer, der eine raffinierte Ökonomie des Genusses pflegt. Er weiß, wie schnell die Reize abklingen und Ernüchterung und Überdruss folgen. Darum schiebt er Genüsse nach Möglichkeit auf und freut sich auf künftige Genüsse. Dabei ist er durchaus glücklich, auch wenn er vielleicht am Ende des Lebens sieht, dem Genuss großteils entsagt zu haben.

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Die Gefühle

Die Gefühle steigen aus der Tiefe der Seele empor. Sie signalisieren uns, ob und in welchem Maß eine Triebregung Erfüllung findet oder unbefriedigt bleibt. Wenn zum Beispiel jemand mit kränkenden Worten meinen Geltungsdrang verletzt, reagiere ich wahrscheinlich beleidigt, durch Lob fühle ich mich geschmeichelt. Je stärker mein Geltungsdrang, desto empfindlicher reagiere ich, oft schon auf eine harmlose Bemerkung.

Sowohl Triebregungen als auch Gefühle steigen aus der Tiefe der Seele auf, ohne dass wir es verhindern können. Aber wir können unseren Verstand einschalten und entscheiden, ob und wie stark sie sich auf unser Verhalten auswirken dürfen.

Umgekehrt können wir Triebregungen und Gefühle nicht willkürlich hervorrufen, auch dann nicht wenn sie vielleicht von Menschen um uns herum erwartet, ja gefordert werden. Wenn ich zum Beispiel am Begräbnis eines Bekannten teilnehme, mit dem ich wenig Kontakt hatte, der aber den anderen Teilnehmern viel bedeutete, möchte ich vielleicht nicht teilnahmslos erscheinen und bemühe mich, eine gewisse Trauer zu erleben (nicht vorzutäuschen, sondern wirklich zu erleben). Das gelingt aber selten und wirkt eher unecht, selbst wenn es ganz ehrlich gemeint ist.

Nicht nur unser Denken, sondern auch unsere Gefühle haben Urteilsfunktion, zum Beispiel unser Mitgefühl. Wenn etwa ein Unternehmer längere Zeit mit Verlusten konfrontiert ist, muss er vielleicht die Zahl der Mitarbeiter verringern, um die Personalkosten zu senken. Die verstandesmäßige Analyse zeigt ihm, wie viele Kündigungen ausgesprochen werden müssen, und nach den bisherigen Leistungs­beurteilungen wird entschieden, wer in erster Linie gehen muss. Tritt aber nicht nur logisches Denken, sondern auch die Urteilsfunktion des Gefühls in Aktion, dann wird auch in Betracht gezogen, was die Kündigungen für die betroffenen Menschen bedeuten. Die Entscheidungen hängen dann vielleicht auch davon ab, für wen der Verlust des Arbeitsplatzes die größere Tragödie ist, zum Beispiel für einen Alleinverdiener, der eine große Familie hat.

 

Ein Gefühl tritt auf dreifache Weise in Erscheinung:

Erstens löst das Gefühl in unserem inneren Erleben eine besondere Stimmung aus, ein Zumutesein, eine gewisse Tönung und Färbung unserer inneren Atmosphäre.

Zweitens hat das, was uns von außen entgegentritt und ein Gefühl auslöst, ein bestimmtes Erscheinungsbild. Es kann vielleicht angenehm oder unangenehm auf uns wirken, lästig, ärgerlich, furchterregend, empörend, vertrauenerweckend, wunderbar, heilig usw. Wenn zum Beispiel ein Mann eine Pistole auf uns richtet, kann er noch so hübsch sein, er wirkt düster und bedrohlich.

Drittens löst jedes Gefühl in uns eine charakteristische Reaktion aus, einen Bewegungs- oder Verhaltensimpuls. Wenn zum Beispiel etwas appetitlich aussieht, möchten wir es ergreifen und uns spontan einverleiben. Wenn es aber verdorben ist und schlecht riecht, wenden wir uns ab oder schieben es weg.

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Die charakteristischen Gefühle des Genussstrebens

Die beiden grundlegenden Gefühle, die signalisieren, ob das Genussstreben Erfüllung findet oder gestört wird, sind Lust und Schmerz.

 

In der Lust genießen wir die angenehmen Empfindungen, die uns Aug und Ohr, Geruchs- und Geschmackssinn und taktile Reize vermitteln – zum Beispiel den Anblick einer herbstlichen Gebirgs­landschaft mit ihren intensiven Farben, eine schöne Melodie, das Zwitschern der Vögel, den Duft eines Lavendelfeldes, die Gaumenfreuden an einer Festtafel, das sanfte Streicheln eines tröstenden Menschen, die Wohltat eines warmen Bades.

Vielleicht fühlen wir uns einfach gesund und wohl, ohne dass es uns bewusst wird.

Die Vielfalt menschlichen Genießens reicht vom rein sinnlichen Auskosten körperlicher Zustände bis zur Hingabe an erlesene ästhetische Bild- oder Musikerlebnisse, von derber Lust bis zu höchst differenzierten Eindrücken des Kenners.

Innerlich geht es um ein intensives Lebensgefühl, ein verstärktes Strömen angenehmer Empfindungen, eine Art Pathos der Lebendigkeit.

Äußerlich hat der Gegenstand der Lust die Qualität des Angenehmen, Wohltuenden.

Bewegungsimpulse, die die Lust auslöst, sind ein Hereinnehmen, In-sich-Aufnehmen, Einatmen, Auskosten, oder auch ein andächtiges Stillhalten.

 

Der Schmerz signalisiert auf mehr oder weniger heftige Weise, dass unsere funktionierende Lebendigkeit, ja das Leben selbst, eingeschränkt und in Gefahr ist.

Schmerz ist einerseits eine Empfindung, die von speziellen Nervenzellen, die als Schmerzsensoren fungieren, registriert, an das Gehirn weitergeleitet und dort als Warnsignal interpretiert wird.

Schmerz ist gleichzeitig ein Gefühl, das innerseelisch als Leiden, als Gefährdung des Lebens, als Störung und Ausschaltung der lebendigen Abläufe erlebt wird.

Der Schmerzgeplagte sucht instinktiv Körperstellungen einzunehmen, die zur Linderung des Schmerzes beitragen können. Der Schmerz löst oft eine verzweifelte, aber erfolglose Fluchtreaktion vor dem beharrenden Schmerzzentrum im eigenen Körper aus – man windet sich vor Schmerzen. (Die medizinische Schmerzbekämpfung geschieht primär nicht auf Basis von Gefühlen und Impulsen, sondern ist eine Aktion des Verstandes.)

 

 

Genüsse sind flüchtig. Reize klingen rasch ab und müssen immer wieder erneuert werden.

Das hat eine Reihe typischer Gefühle zur Folge, die meist in dieser Reihenfolge auftreten:

Langeweile > Überdruss > Widerwille > Ekel und Abscheu.

Ein Mensch, für den Genuss und Vergnügen Vorrang hat, ist auf ständige Reizerneuerung angewiesen. Ohne Reizerneuerung und Abwechslung tritt schnell Langeweile ein.

In der Langeweile fühlen wir uns innerlich leer und öde. Das Lusterlebnis klingt ab und macht der Lustlosigkeit Platz. Auch alles um uns herum erscheint fad und öd. Wir haben keine Lust, etwas zu tun. Nichts macht Spaß, nichts verschafft Lust.

Langeweile ist nur möglich, wenn das Genussstreben vorherrscht, aber nicht befriedigt wird. Wer sich einer Aufgabe widmet, arbeitet und etwas leisten will, wer jemandem helfen, etwas gestalten, etwas erkennen und verstehen will, ist gegen die Langeweile gefeit.

 

Nun kann es sein, dass man die Langeweile besiegen will, indem man das, was Lust verschafft hat, weiterhin tut und genießen will. Das funktioniert aber nicht. Das Objekt der Lust wird uns auf die Dauer lästig. Es kommt zum Überdruss. Überdrüssig kann man nur einer Sache werden, die man zuvor genossen hat. Zum Beispiel kann zuviel Süßes oder zuviel Sex überdrüssig machen, man will nicht mehr.

 

Glaubt man trotzdem, den Genuss retten zu können, indem man daran festhält, kann uns der Gegenstand der Lust unangenehm, widerlich werden und wir erleben den Impuls, ihn wegzuschieben oder wegzustoßen. Widerwille kommt auf.

 

Die letzte Steigerung ist Ekel und Abscheu. Man fühlt sich abgestoßen von etwas, das das gesunde, heile Leben stört, infiziert, krank macht, zerfrisst, zerstört. Man will mit dem Ekelhaften und Abscheulichen auf keinen Fall in Berührung kommen. Es soll aus unserer Nähe, aus unserem Blickfeld verschwinden. Wir wenden uns angeekelt ab.

Ekel haben wir vor lebensfeindlichen Dingen, etwa unappetitlichen, verdorbenen Speisen, eiternden Wunden, Ratten, ekligem Gewürm.

Abscheu haben wir vor schadenstiftenden Menschen, die uns gemein, roh, brutal, grausam, verrucht erscheinen.

 

Eine Sonderform des Genussstrebens ist der Geschlechtstrieb.

Da die Weitergabe des Lebens für das Überleben des Menschengeschlechts von entscheidender Bedeutung ist und gleichzeitig die Fürsorge für die Entwicklung und Erziehung des heranwachsenden Menschen viel Einsatz, Verzicht und Opfer bedeutet, ist der Geschlechtstrieb von Natur aus besonders stark und oft überwältigend. Zur Aktivierung des Geschlechtstriebes sind die erogenen Zonen des Körpers mit spezifischen Rezeptoren ausgestattet, die ganz spezielle Genusserlebnisse hervorrufen.

Da auch zuviel Sex fast automatisch die Abfolge von Langeweile, Überdruss und Widerwillen auslöst, erweist sich Maßhalten als eine gesunde Reaktion seelischer Hygiene. Wird statt dessen zu ständiger Reizerneuerung, Reizsteigerung und Abwechslung Zuflucht genommen, kann es zu übertriebenen, perversen und oft sogar unmenschlichen Praktiken kommen.

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Tätigkeitsdrang:

 

Das Genussstreben ist die passive Form der Lebenslust. Es strebt danach, aufzunehmen, was das Leben fördert und angenehm macht.

 

Der Tätigkeitsdrang ist die aktive Form der Lebenslust. Er drängt zur Selbstbewegung als Urfunktion des Lebens, denn Stillstand bedeutet Tod. Darum wirkt er sich schon beim Säugling im Atmen, Lallen, Schreien, Strampeln und im Spiel der Hände aus. Später im Gehen, Laufen, Springen, Klettern, in Spiel und Sport.

Der Tätigkeitsdrang sorgt dafür, dass sich der Bewegungsapparat entwickelt und ist daher bei Kindern und Jugendlichen besonders ausgeprägt. Der Bewegungsdrang explodiert förmlich, sobald Kinder aus der Wohnung ins Freie kommen. Im Alter nimmt seine Wirksamkeit allmählich ab, das Ruhebedürfnis nimmt zu.

Auch von Mensch zu Mensch ist der Tätigkeitsdrang unterschiedlich ausgeprägt, bei beschaulichen Naturen weniger, bei betriebsamen mehr.

Gefühlsmäßig geht es im Tätigkeitsdrang an und für sich um reine Funktionslust, unabhängig von damit verbundener Leistung und kreativem Schaffen.

Allerdings stehen beim Menschen alle Funktionen und Lebensäußerungen in unmittelbarem und wechselseitigem Zusammenhang. Kein Trieb, kein Gefühl steht für sich allein, sondern wirkt schwerpunktmäßig im Zusammenspiel mit allen anderen Lebensäußerungen.

So haben Genussstreben und Tätigkeitsdrang nicht nur körperliche Bedeutung, sondern auch eine seelische Komponente. Der Lebensdrang äußert sich dann als Erlebnisdrang.

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Erlebnisdrang:

Der Erlebnisdrang sucht nach allem, was zum erregenden „Erlebnis“ werden kann, Sensation, kräftige und heftige Gefühle. Er bleibt unbefriedigt, wenn alles so zahm zugeht und keinen starken, lebhaften Eindruck macht.

Aus diesem Drang heraus sucht der Mensch echte und kräftige Gefühle zu erleben, so dass sein ganzes inneres Erleben in der schöpferischen Tiefe der Seele verankert bleibt und der Gefahr entgeht, „von des Gedankens Blässe angekränkelt“ zu werden.

Oft suchen Menschen die direkte Befriedigung ihres Erlebnisdrangs in abenteuerlichen und gefährlichen Situationen, vielleicht auf Forschungsreisen und Kletterfahrten, im Extremsport, Krieg oder Einzelkampf, auf Verbrecherjagd, vielleicht als Feuerwehrmann, Stuntman, Seefahrer, Kampfflieger.

Viel häufiger wird aber die Befriedigung des Erlebnisdrangs auf indirekte Weise und unter Vermeidung akuter Gefahren gesucht – im Film, Theater, Buch oder in mündlicher Erzählung. Vom Lehnstuhl aus wird der Nervenkitzel der Gefahr in Gruselfilmen oder Unfall- und Katastrophen­meldungen genossen. Wenn sich ein Verkehrsunfall ereignet oder ein Haus brennt, sind sensationslüsterne Zuschauer oft schneller am Ort als professionelle Helfer.

Der Erlebnisdrang kann auch im Liebesabenteuer, im Flirt, auf ausgelassenen Partys, Maskenbällen oder rauschenden Festen mit viel Jubel, Trubel, Heiterkeit auf seine Rechnung kommen.

Im Verlauf des Lebens gewinnt der Erlebnishunger im Sturm und Drang der Pubertät an Dynamik. Auch im späteren Leben kann ein gesteigerter Erlebnisdrang aufflackern, wenn zum Beispiel der alternde Mensch von der Abnahme der Lebensenergie beunruhigt wird oder wenn nach einer bedrohlichen Krankheit eine neue Chance, ein neuer Lebensaufschwung gesucht wird, vielleicht in einer verspäteten Liebe oder im Anlauf zu neuen sportlichen Herausforderungen.

Der Erlebnisdrang ist von Mensch zu Mensch verschieden stark. Weniger ausgeprägt – oder vielleicht auch stärker beherrscht – ist er oft bei Arbeits- und Leistungsmenschen, bei Wissenschaftlern oder bei Menschen, die sich in helfenden Berufen engagieren.

In übermäßiger Ausprägung - oft verbunden mit verminderter Selbststeuerung - kann der Erlebnisdrang zur Erlebnissucht und damit zu einem beherrschenden Grundmotiv der Lebensführung werden. Das führt zu Sensationslüsternheit, maßloser Neugier und gesteigertem Erlebnishunger.

Bei innerer Leere oder brüchig gewordener Lebenskraft kann sich eine dekadente Erlebnissucht entwickeln, die ständig nach Reizen und Sensationen jagt und immer stärkere Reizmittel und Suchtgifte braucht.

Da Reize schnell ihre Wirkung verlieren und fortwährend erneuert und verstärkt werden müssen, ist besonders der Erlebnissüchtige ständig in Gefahr, in die Langeweile abzustürzen. In den Wechselbädern von Sensation und Langeweile kann es zu einer hektischen und zugleich lähmenden „Lebensaufgabe“ werden, sich Frustration und Langeweile vom Hals zu halten.

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Frohe und unfrohe Gefühle

Wenn der Lebensdrang - der Zusammenklang von Genussstreben, Tätigkeitsdrang und Erlebnisdrang - Erfüllung findet, kommt das in einer frohen Gefühlslage zum Ausdruck, wenn nicht, herrscht eine unfrohe Gefühlslage vor.

Wenn neben dem Lebensdrang, also dem „Willen zur Lust“, der Drang zur Selbstdurchsetzung, also der „Wille zur Macht“, stärker ausgeprägt ist als der „Wille zum Sinn“, so äußert sich die frohe Gefühlslage als Vergnügen und Lustigkeit und die unfrohe als Ärger und Verdrossenheit.

Wenn neben dem Lebensdrang der „Wille zum Sinn“ stärker ausgeprägt ist als der „Wille zur Macht“ so äußert sich die frohe Gefühlslage als Freude und Heiterkeit und die unfrohe als die Gefühlsregung der Trauer oder die Grundstimmung der Traurigkeit.

 

Vergnügen regt sich in Augenblicken, in denen wir freie und ungehemmte Entfaltung unserer Lebendigkeit genießen, in denen der Spieltrieb auf seine Rechnung kommt. Wir erleben den Impuls, uns ins Vergnügen zu stürzen.

Ärger regt sich in Augenblicken, in denen unsere Lebensfunktionen gestört oder gehemmt werden und nicht reibungslos ablaufen können. Wir ärgern uns, wenn etwas misslungen ist, wenn wir uns blamiert oder etwas nicht bekommen haben, wenn wir in eine Unannehmlichkeit geraten sind. Wir reagieren gereizt und gehen aggressiv gegen das Störende oder gegen Menschen vor, die uns Ungelegenheiten bereiten oder uns in unserer freien Entfaltung hemmen. Oft lassen wir unseren Ärger stellvertretend an Dingen oder Menschen aus, die gar nichts dafür können.

Freude regt sich, wenn durch eine Sache, ein Ereignis oder einen Menschen unser Dasein einen Aufschwung erfährt und heller, sinnvoller, reicher wird. Wer oder was uns Freude bereitet, wird als ein Geschenk des Daseins erlebt. Wir öffnen uns und wenden uns dem Gegenstand der Freude zu.

Trauer ist ein seelischer Schmerz, den wir erleben, wenn wir jemanden oder etwas, das unser Dasein trägt und steigert und unserem Leben Sinn verleiht, entbehren oder verloren haben, etwa durch den Tod eines geliebten Menschen. Unser Dasein verdunkelt sich, verarmt, wird leer. Wir verschließen uns und möchten uns zurückziehen.

 

Zwischen Vergnügen und Freude bestehen signifikante Unterschiede:

Im Vergnügen sucht man sich selbst und seine Lust. Einen Menschen, der unser Vergnügen nicht mitmachen kann, weil er nicht in der Stimmung ist, lassen wir links liegen.

In der Freude fühlen wir uns dem Gegenstand der Freude verpflichtet. Einem Menschen, der traurig ist, bleiben wir verständnisvoll verbunden.

Der Gegenstand des Vergnügens, ob Ding, Tier oder Mensch, wird als zufällige und auswechselbare Gelegenheit betrachtet.

Der Gegenstand der Freude, ob Ding, Tier oder Mensch, wird als Geschenk des Daseins erfahren und als eigenständiger Wert und tragender Sinn erlebt.

Im Vergnügen will man oft sich selbst vergessen und vor sich selbst davonlaufen.

In der Freude finden wir zu uns selbst, erleben Halt und Sinn.

Das Vergnügen wirkt oberflächlich und für den Augenblick, verrauscht rasch und bedarf immer wieder der Reizerneuerung.

Die Freude ergreift uns innerlich, trifft den seelischen Schwerpunkt eines Menschen und strahlt sinngebend in die Zukunft aus.

Das Vergnügen ist keine taugliche Grundlage für dauerhaftes Glück, weil es zu rasch verglüht und keinen Sinn stiftet.

Die Freude ist sinnstiftend, gibt unserem Dasein einen besonderen Glanz und schafft echtes, dauerhaftes Glück.

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Erregungsformen des Lebensgefühls:

In seltenen Augenblicken wird das Lebensgefühl von einer starken Erregung erfasst und steigert sich in der Freude zum Entzücken und in der negativen Erlebnisform zum Entsetzen.

Entsetzen erfasst einen Menschen beim Anblick eines grauenhaften Geschehens, einer fürchterlichen Verletzung, eines entstellten Toten, eines Unfalls, eines Verbrechens oder eines grausigen Gespenstes. Ein Mensch, den das Entsetzen packt, schüttelt sich und wendet sich ab, um nicht in Berührung mit Tod und ruinösem Leben zu kommen.

Im Entzücken führt eine ekstatisch überhöhte Freude aus dem Alltag heraus in einen erlösenden Ausnahmezustand. Dieser Zustand ist naturgemäß nicht von langer Dauer, wird aber manchmal sehnsüchtig als höchstes Glück angestrebt in der Ekstase.

Ekstase wird als höchste Steigerung des Lebensgefühls erlebt. In der Ekstase möchte das Individuum in einen Zustand der Verzückung und völligen Selbstvergessenheit gelangen, höchster Lebensfülle und geistiger Erleuchtung teilhaftig werden. Von Einzelpersonen wird dieser Zustand vielleicht durch religiöse Übungen, Meditation und asketische Loslösung angestrebt.

Manchmal versuchen Gruppen durch den Genuss von Rauschmitteln, durch kultische Tänze und Orgien in ekstatische Zustände zu geraten. Das geschah zum Beispiel im Altertum bei dionysischen Festen.

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Dauerhafte Gefühlszustände aus der Thematik des Lebensdrangs:

Wenn ein Mensch immer wieder Freude erlebt, kann eine dauerhafte Gefühlslage der Heiterkeit entstehen, eine Gestimmtheit, die stationär geworden ist, eine Art seelischer Großwetterlage.

Einzelne Gefühlsregungen der Trauer können sich zu anhaltender Traurigkeit verdichten. Der Unterschied liegt einerseits in der Trauer als vorübergehender Gefühlsregung aus einem bestimmten Anlass, und andrerseits in der Traurigkeit als länger anhaltendem Gefühlszustand, der Tag für Tag das innere Erleben, aber auch die Sicht der äußeren Welt „einfärbt“.

Es gibt auch eine chronische Traurigkeit, eine Schwermut, Melancholie, Depression, die über alles ihren Schatten legt, aber keinen erkennbaren Anlass zu haben scheint.

Wenn jemand zulässt, dass er sich immer wieder ärgert, so kann er in eine alles durchsetzende Stimmungslage des Missmutes und der Verdrossenheit geraten. Das führt zu einem Teufelskreis, weil der Missmutige aus seiner verdrossenen Stimmung heraus sich über jede Kleinigkeit ärgern kann und häufig gereizt ist.

Andrerseits gibt es Menschen, die so herrlich lustig sein können und jeden Anlass zur Lust oder Ausgelassenheit nützen, so dass sich eine dauerhafte Stimmungslage der Lustigkeit und Vergnügtheit entwickelt. 

Es ist aufschlussreich, den Unterschied zwischen Heiterkeit und Lustigkeit und auch den zwischen Traurigkeit und Missmut herauszuarbeiten. Allerdings sind diese Unterschiede nicht immer so fein säuberlich getrennt, wie hier beschrieben, sondern gehen fließend ineinander über und entfalten eine Wechselwirkung.

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Heiterkeit und Lustigkeit:

Der Heitere freut sich an Menschen und Dingen und bejaht sie in ihrem Eigenwert.

Der Lustige amüsiert sich mit ihnen und bejaht sie nur, soweit sie zu seiner Stimmung beitragen.

Mit der Heiterkeit verbindet sich schenkende Güte und liebevolles Verweilen vor den Dingen.

Mit der Lustigkeit verbindet sich die Duldsamkeit des Leben-und-Leben-Lassens, aber Güte und liebevolles Verweilen fehlen.

Der Heitere ist den Mitmenschen und der Umwelt gegenüber aufgeschlossen, aber er braucht sie nicht, um sich in seiner Stimmung zu halten.

Der Lustige braucht die Außenwelt, um sich an ihr zu vergnügen, ist also von ihr abhängig.

Der Heitere erweist auch Menschen, die nicht in froher Stimmung sind, Verständnis, Wohlwollen und Teilnahme.

Der Lustige hat kein Interesse an Menschen, die seine Stimmung nicht mitmachen, findet sie langweilig und störend und beachtet sie nicht weiter.

Der Heitere ist gelassen und gesammelt. Er lebt aus einem inneren Schwerpunkt und kann zurückhaltend und ganz innerlich sein.

Der Lustige ist ausgelassen und betriebsam nach außen gewandt. Er braucht die Zerstreuung, greift nach den Dingen und wirbelt sie oft übermütig durcheinander.

Der Heitere widmet sich den Forderungen des Tages, sieht aber über den Horizont der Gegenwart hinaus, bereitet die Zukunft vor und akzeptiert auch die Schattenseiten des Lebens.

Der Lustige geht oft ganz im Vergnügen der Gegenwart auf und neigt zu Leichtsinn und Oberflächlichkeit, blickt meist nicht über den Augenblick hinaus und vergisst auf die Erfordernisse der Zukunft.

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Traurigkeit und Missmut:

Der Traurige schließt sich ab und sucht seine Not meist allein zu bewältigen. Er verliert das Interesse an der Außenwelt, ist antriebsarm und muss sich oft zu jeder Tätigkeit zwingen.

Der Missmutige wendet sich gereizt und feindselig nach außen, um sich an anderen abzureagieren. Er neigt vermehrt dazu, sich zu ärgern und aggressiv zu reagieren.

Der Traurige wendet sich den Mitmenschen mit Güte und Teilnahme zu, sobald seine Hilfsbereitschaft in Anspruch genommen wird.

Der Missmutige dagegen ist unfreundlich, unverbindlich und ohne Güte.

Der Traurige leidet, aber er lässt sich nicht verbittern und kennt keine Unzufriedenheit. Seine Gefühlsreaktion ist die Resignation, der Verlust aller Lebenserwartungen.

Der Missmutige ist verbittert, unzufrieden, voll Groll und Missgunst gegen alle, die sich freuen oder lustig sein können. Seine Gefühlsreaktion ist das Ressentiment, eine unterschwellige Rachsucht gegen alle, die es besser haben.

 

Manchmal begegnet uns eine unechte, sentimentale Spielart der Traurigkeit:

Der unecht Traurige kostet die dunkle Stimmung der Schwermut und Traurigkeit selbstgenießerisch aus und schielt in fast pathetischer Selbstdarstellung auf die Wirkung, die er bei anderen erzielt.

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Stimmungsschwankungen:

Gleichmut resultiert aus einer gleichmäßigen mittleren Stimmungslage ohne starke Ausschläge. Gleichmut bedarf kluger Pflege und ist eine innere Erlebnisqualität, die nach außen hin als Gelassenheit in Erscheinung tritt.

Der Gleichmütige lässt sich weder von besonderen Glücksfällen noch von Enttäuschungen und Fehlschlägen aus der Fassung bringen. Missmut und Verdrossenheit sind ihm fremd.

 

Periodische Schwankungen führen in kürzerem oder längerem Rhythmus zu sich wiederholenden Übergängen von Phasen schwermütiger Gedrücktheit über Zwischenphasen mittlerer Stimmungslagen in Zustände froher Gestimmtheit, stets mit „Hin- und Rückfahrkarte“. Meist sind keine äußeren Anlässe zu erkennen, die Ursachen dieser periodischen Schwankungen sind vielmehr in unbewussten Tiefen der Seele zu vermuten.

 

Sprunghafte Stimmungsumschwünge äußern sich meistens als Launenhaftigkeit.

Der Launenhafte überlässt sich unbeherrscht seinen labilen, unberechenbaren Stimmungsumschlägen, wird unsachlich und ungerecht und zeigt kein Verantwortungsbewusstsein.

Die Stimmungen schwanken nicht zwischen Heiterkeit und Traurigkeit, denn dem Launenhaften fehlt die nötige Duldsamkeit und der besonnene Abstand zu sich selbst.

Seine unberechenbaren Launen schwanken vielmehr zwischen Vergnügtheit und Missmut.
Ist er vergnügt, so zeigt er bejahende Gönnerhaftigkeit und verzeiht auch Beleidigungen.
Ist er schlecht aufgelegt, so wird er unduldsam, ablehnend, quälsüchtig und überempfindlich, ist schnell eingeschnappt und nimmt auch harmlose Bemerkungen übel.

 

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Leibliche Gefühlszustände:

Zustände unseres Körpers, z.B. Vorgänge des Stoffwechsels, der Verdauung, der Atmung, des Blutkreislaufes, der inneren Sekretion haben einen permanenten und entscheidenden Einfluss auf unsere Gefühlslage.

Häufig äußern sich leibliche Gefühlszustände als körperliches Behagen oder Unbehagen, Unwohlsein, Frieren oder Erhitztsein, Hunger, Durst, Sättigung, Müdigkeit, Schläfrigkeit, Frische, Übelkeit, anhaltende Schmerzen, Gefühl körperlicher Kraft oder Schwäche, körperliche Spannung oder Gelöstheit, Ruhe oder Unruhe.

Gerade in diesem Bereich ist es charakterologisch bedeutsam, wie wir diese leiblichen Gefühlszustande beherrschen und verarbeiten.

Es ist für unsere Lebensqualität bestimmend, welche körperlich-seelischen Gefühlszustände vorherrschen und wie nachhaltig sie sind, ob wir uns dauernd müde oder frisch, kraftvoll oder schwach, gesund oder krank fühlen, oder ob wir gar einem chronischen Leiden ausgeliefert sind. Bei einer schweren und schmerzhaften Krankheit kann unser Bewusstsein weitgehend von Leiden und Schmerz überwältigt und eingeschränkt sein.

Oft beurteilen wir einen Menschen, der vielleicht ständig missmutig und gereizt ist, sehr ungerecht, weil wir nicht wissen, dass er unter einem körperlichen Übel zu leiden hat.

So sagt Goethe über Herder, der an einer schmerzhaften Augenkrankheit litt: „Was Herder betrifft, so schrieb sich das Übergewicht seines widersprechenden, bitteren, bissigen Humors gewiss von seinem Übel und den daraus entspringenden Leiden her. Dieser Fall kommt im Leben öfters vor und man beachtet nicht genug die moralische Wirkung krankhafter Zustände und beurteilt daher manche Charaktere sehr ungerecht, weil man alle Menschen für gesund nimmt und von ihnen verlangt, dass sie sich auch in solcher Weise betragen sollen.“

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Die Angst:

Wir werden schon mit der Grunderfahrung geboren, dass das Leben ständig bedroht ist, dass es lediglich in einer Art Schwebezustand verharrt, der jederzeit gestört werden oder zusammenbrechen kann.

Daraus resultiert ein unbestimmtes Gefühl der Angst. Sie hat eigentlich keinen Gegenstand, sondern wird von den unsichtbaren, namenlosen Bedrohungen, denen wir ständig ausgesetzt sind, ausgelöst. Sie bezieht sich nicht auf eine Bedrohung des Individuums von außen, sondern signalisiert eine allgegenwärtige Gefährdung alles Lebendigen.

Da wird kein Adrenalin ausgeschüttet, das uns kampfbereit macht, sondern wir spüren einfach eine Beengtheit des Herzens, eine Dämpfung der Atmung, eine unbestimmte Unruhe. Die Weite und Freiheit des Lebensgefühls wird eingeengt, und unwillkürlich ziehen wir uns in uns zurück. Die Angst kann ein permanenter innerer Gast sein, der uns auf Schritt und Tritt begleitet und beengt, eben „beängstigt“.

Die Angst kann in verschiedenen Lebensphasen unterschiedlich thematisiert sein:

Lebensangst kann den jungen Menschen ergreifen, wenn er aus der Geborgenheit der Familie in das Leben hinaustritt, sich auf die eigene Kraft und Verantwortung angewiesen fühlt und sich all den unbestimmten Möglichkeiten und Gefahren des Lebens ausgesetzt sieht.

Eine existenzielle Angst kann einen Menschen beschleichen, der so sehr in der hochtechnisierten und mechanisierten Welt aufgeht, dass er die Verbindung mit dem Lebensrhythmus der Natur mehr und mehr verliert. Er fühlt sich vielleicht entwurzelt und nicht mehr geborgen in Natur und Tradition. Er schreckt vor einer Welt zurück, die keinen Sinn zu haben scheint und von einem namenlosen Nichts bedroht wird.

Eine seelische Binnenangst kann sich eines Menschen bemächtigen, der sich in eine seelische Einseitigkeit verrannt hat, die sein inneres Gleichgewicht, seine personale Ganzheit und den natürlichen Rhythmus seines Lebens stört. Vielleicht lebt er in Eile und Hast so sehr in die Breite, dass er seine Mitte verliert. Vielleicht kommt in dem, was er tut, nicht sein inneres Potenzial in seiner Ganzheit zum Einsatz, so dass er an sich selbst vorbeilebt. Vielleicht verdrängt er etwas aus seinem Bewusstsein, das er nicht wahrhaben will, weil es ihm Scham oder Schuldgefühle verursacht.

Alle diese drei Spielarten der Angst verlieren ihre Kraft, wenn es gelingt, das Bedrohliche zu konkretisieren, aus dem Dunkel seiner Unbestimmtheit herauszuholen. Dann kann man es ins Auge fassen, analysieren und eine Strategie suchen, einen Plan entwerfen, um es zu bekämpfen oder aber als nicht bedrohlich zu erkennen.

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Dann wird die anonyme Angst allenfalls abgelöst durch die

Furcht,

die immer einen konkreten Gegenstand hat, etwas das uns bedroht in unserer persönlichen Existenz. Angesichts einer solchen Bedrohung überfällt oder überwältigt uns der

Selbsterhaltungstrieb.

Der richtet sich dann entweder unmittelbar gegen die Bedrohung, etwa wenn die Insassen eines Rettungsbootes weiteren Schiffbrüchigen, die sich an das Boot klammern und es zum Kentern bringen, die Hände abhacken.

Das sind aber Ausnahmesituationen. In Wirklichkeit ist der Selbsterhaltungstrieb Tag ein, Tag aus unterschwellig wirksam und armiert sich im Lauf des Lebens immer mehr mit Besitztümern, mit Macht und Einfluss und mit Geltung und Prestige, um dadurch die Lebensposition des Individuums oder der Gruppe zu stärken und mehr oder weniger unangreifbar zu machen.

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Der Wille zur Macht

 

„Wille zur Macht“ ist die Umschreibung für den Selbsterhaltungstrieb und alle jene Strebungen, die aus diesem Urtrieb hervorgehen und darauf gerichtet sind, sich als Einzelperson gegen die Umwelt und die anderen Menschen durchzusetzen. Im Besitzstreben geht es dem Individuum darum, Besitztümer zur Verfügung zu haben, vom Lebensnotwendigen und Nützlichen bis zu Überfluss und Luxus. Im Machtstreben will das Individuum Verfügungsgewalt und Herrschaft über die Umwelt und vor allem über möglichst viele Menschen erringen, und zugleich vermeiden, selbst zum einem Machtobjekt zu werden. Im Geltungsdrang möchte der Mensch im Urteil seiner Mitmenschen einen möglichst hohen Rang einnehmen und Prestige genießen.

Das Streben nach Besitz, Macht und Geltung kann nicht nur von einer Einzelperson, sondern auch von einem Kollektiv ausgehen, zum Beispiel im Gruppenegoismus, im Vormachtstreben einer Nation, im Prestigestreben einer gesellschaftlichen Gruppe, im Bestreben eines Familienclans, eine wirtschaftlich und politisch bestimmende Macht im Lande zu sein.

Besitzstreben, Machtstreben und Geltungsdrang wirken nicht isoliert. Sie beeinflussen sich wechselseitig. Ihr Zusammenspiel und ihre Stärke erweisen sich im Anspruchsniveau.

In dem Maß, in dem Besitzstreben, Machtstreben und Geltungsdrang durch andere Menschen erfüllt oder behindert werden, wird der Mensch vom Vergeltungsdrang getrieben, entweder positiv in Form von Dankbarkeit oder - weitaus häufiger - negativ in Form von Rachsucht.

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Selbsterhaltungstrieb:

In höchster Alarmstufe bricht der Selbsterhaltungstrieb hervor, wenn sich der Mensch unmittelbar an Leib und Leben bedroht fühlt, etwa wenn dort, wo er sich gerade aufhält (Wohnung, Kino, Theater, Sporthalle ...) ein Brand ausbricht; wenn ihn ein wildes Tier, ein Räuber, Vergewaltiger, Amokläufer oder Rowdys bedrohen; bei einem Auto-, Schiffs- oder Flugzeugunfall, bei Erdbeben, Luftangriff, Nahkampf, Massaker; in Ertrinkungs- oder Erstickungsgefahr usw.

In solchen Paniksituationen fällt jede Rücksicht auf andere weg (wer fällt, wird niedergetrampelt, Schwächere werden zurückgelassen, aus der rettenden Zuflucht hinausgestoßen, notfalls erschlagen). Der Verstand verliert den Überblick, wird ausgeschaltet. Primitive Kampf- oder Fluchtimpulse beherrschen das Verhalten.

In primitivsten Lebensformen beschränkt sich der Selbsterhaltungstrieb auf die Nahrungssuche und Nahrungsaufnahme, auf Angriff, Verteidigung und Flucht.

Im menschlichen Alltag sind die Grundziele des Selbsterhaltungstriebs die Sicherung des Lebens, die Behauptung im Kampf ums Dasein, die Beschaffung der notwendigen Existenzmittel und die Sicherung gegen alle Widerstände, Anfeindungen und Gefährdungen durch die Umwelt und durch die Mitmenschen.

Das Tier hat nur Instinkte und angeborene Fertigkeiten zur Verfügung. Der Mensch kann seinen Verstand einsetzen. Er schafft Wohnstätten, Kleidung, Werkzeuge, Instrumente, Organisationen, um das Leben zu schützen und das Dasein zu sichern. Vom Türriegel bis zum Sicherheitsschloss, vom Wachhund bis zur Alarmanlage, vom Hirtenpelz bis zum Weltraum­anzug, von der Keule bis zur Maschinenpistole, vom Kuhmist bis zum Kunstdünger, von der Familienstruktur bis zu Regierungen und Weltorganisationen, von der praktischen Ein­schulung in Haustierhaltung und Speerwurf bis zur Universität und Militärakademie hat der Erfindungsgeist des Menschen ein unüberblickbares System der Lebenssicherung und Lebensbewältigung geschaffen. Ein System übrigens, das so komplex und störungsanfällig ist, dass viel Kooperation notwendig ist, um existenzbedrohende Krisen zu vermeiden.

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Gefühlsregungen der Selbsterhaltung:

Zweifellos bieten verstandesmäßige Analyse und Planung die beste Gewähr für die Abwehr von Gefahren. Aber oft kommen Gefährdungen plötzlich und unerwartet. Man ist darauf nicht vorbereitet. Mögliche Abwehrhandlungen müssten so gut einstudiert und eingeübt worden sein, dass sie schon in der ersten Schrecksekunde automatisch eingesetzt werden können. Viele Berufe (z.B. polizeiliche Sondereinsatzkommandos, Linienpiloten) setzen eine ent­sprechende Ausbildung voraus. Aber der Durchschnittsmensch ist auf Spontanreaktionen angewiesen. Und diese kommen aus dem Gefühlsbereich und aus der unbewussten Tiefe der Seele.

Die unmittelbaren Gefühlsregungen der Selbsterhaltung, vor allem Erschrecken, Aufregung und Furcht signalisieren die akute Gefahr und lösen eine spontane – wenn auch nicht immer zweckmäßige – Reaktion aus.

Die weiteren Gefühlsregungen der Selbsterhaltung - Wut, Misstrauen, Argwohn und Vertrauen - betreffen primär die Selbsterhaltung und darüber hinaus auch Besitzstreben, Machtstreben, Geltungsdrang und Vergeltungsdrang.

Schreck, Aufregung und Wut sind mit höchster Erregung verbunden, sind also Primitivaffekte, die das geordnete Denken und Wollen ausschalten. Man erstarrt vor Schreck, verliert vor Aufregung den Kopf oder wird blind vor Wut.

 

Erschrecken:

Eine unerwartete Bedrohung überfällt uns plötzlich und schlägt uns in ihren Bann.

Unser Denken ist gelähmt, Vorstellungen und Assoziationen, mit denen wir uns normaler­weise orientieren, sind blockiert. Auch in unseren Bewegungen sind wir erstarrt, wie gelähmt; der Atem stockt, der Herzschlag setzt aus, in seltenen Fällen sogar auf Dauer (Herztod).

 

Aufregung:

Besonders Menschen, die zur Nervosität neigen, können die Bedrohung nicht überblicken und reagieren äußerst beunruhigt, verwirrt und irritiert.

Der aufgeregte Mensch gerät aus der Fassung, kann nicht mehr denken, handelt desorganisiert und unzweckmäßig, hastet kopflos hin und her, der Atem keucht, der Herzschlag rast.

 

Wut:

Primitive Charaktere geraten in Wut, wenn etwas oder jemand Widerstand leistet, sich ihren Absichten widersetzt, Schwierigkeiten macht und dadurch den reibungslosen Ablauf ihres Handelns stört oder behindert.

Gereiztheit und Wut stauen sich mit dumpfem Druck und entladen sich plötzlich. Der Wütende braust auf, beginnt um sich zu schlagen, zuzuschlagen - brüllend oder düster schweigend. Er will zerstören, was ihn stört. Manchmal lässt er seine Wut an einem Ersatzobjekt aus.

 

Ruhiger verlaufen die Gefühlsregungen der Furcht, des Misstrauens, des Argwohns und – im positiven Sinn – des Vertrauens.

 

Furcht:

Wenn man etwas oder jemand Bedrohlichem, Feindseligem begegnet, dem man sich nicht gewachsen fühlt oder von dem man erfahrungsgemäß eine Gefährdung oder Bedrohung zu erwarten hat, kommt Furcht auf. Man fühlt sich schwach, schutzlos, ausgeliefert, wird unruhig und verliert die Standfestigkeit, die Knie werden weich, beginnen zu schlottern.

Die Furcht löst den Impuls aus, zurückzuweichen, sich zurückzuziehen, zu fliehen. Oder man wagt sich nicht zu rühren und bleibt wie angewurzelt am Platz.

 

Misstrauen und Argwohn:

Wenn ich jemanden für bedenklich, unzuverlässig, zweifelhaft halte, so beschleicht mich ein Gefühl des Misstrauens. Ich glaube nicht an sein Wohlwollen, seine Aufrichtigkeit, seine Loyalität und werde wachsam, beginne ihn zu beobachten, versuche ihn zu durchschauen, bin auf der Hut. Vielleicht lasse ich mir nichts anmerken und bleibe doch in unterschwelliger Alarmbereitschaft.

Mein Misstrauen steigert sich zum Argwohn, wenn ich feindseliges oder unredliches Verhalten nicht nur für möglich halte, sondern vermute und davon ausgehe, dass dieser Mensch etwas gegen mich im Schilde führt.

Misstrauen kann habituell werden, wenn ein Mensch immer wieder schlechte Erfahrungen macht und Enttäuschungen erlebt. Menschen, die furchtsam sind, neigen auch zu Misstrauen, aber nicht jeder Misstrauische ist furchtsam.

Zu ständigem Misstrauen neigen aber auch Menschen, die selbst unzuverlässig sind und häufig etwas gegen andere im Schilde führen. Hier ist Projektion im Spiel.

Umgekehrt neigt ein Mensch, der selbst wohlwollend und vertrauenswürdig ist, dazu, auch seinerseits anderen Menschen Vertrauen entgegenzubringen.

 

Vertrauen:

Vertrauen ist das Gefühl, dass uns jemand nicht feindselig, sondern wohlwollend gesonnen ist, dass wir von ihm Gutes oder zumindest nichts Abträgliches zu erwarten haben. Vertrauen ist verbunden mit einem Gefühl der Beruhigung und Sicherheit. Mit einem Menschen, dem wir vertrauen, treten wir gern in Verbindung, wir begegnen ihm mit Offenheit.

Es ist wichtig, dass wir verstandesmäßig prüfen, ob das Vertrauen gerechtfertigt ist.

Blindes Vertrauen verzichtet bewusst auf jede verstandesmäßige Prüfung.

Der Arglose, Vertrauensselige hingegen kommt gar nicht auf den Gedanken, sein Vertrauen kritisch zu prüfen.

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Besitzstreben:

Besitzstreben ist der Drang, sich Dinge und Dienstleistungen zu verschaffen, die nützlich und zuträglich sind, die man gebrauchen und verbrauchen kann. Zum Besitzstreben gehört auch der Drang, Menschen für sich in Anspruch zu nehmen.

Solang dieses Streben maßvoll und vernünftig ist und auch die Bedürfnisse anderer Menschen angemessen berücksichtigt, äußert es sich als

gesunder Egoismus.

Ein Mensch, der aus gesundem Egoismus lebt und handelt, möchte all die nützlichen und angenehmen Dinge und Möglichkeiten haben, um ein angenehmes, gesundes und interessantes Leben zu führen, um Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erwerben, um sich entfalten und sein Persönlichkeitspotenzial entwickeln zu können. Er nimmt darauf Rücksicht, dass auch seine Mitmenschen auf diese Weise leben können und ist bereit, zum diesem Zweck Kompromisse zu finden und Einschränkungen zu akzeptieren.

In dem Maß, in dem die notwendigen, nützlichen und angenehmen Dinge und Möglichkeiten nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen, führt das Besitzstreben zu Konflikten und Rivalitäten mit anderen Menschen.

Dem persönlichen Egoismus entspricht auf Gruppenebene der

Kollektivegoismus,

zum Beispiel als Familienegoismus, Klassenegoismus, Nationalegoismus und den entsprechenden Rivalitäten zwischen Gruppen aller Art. Tag für Tag sind wir mit politischen Konflikten und Rivalitäten konfrontiert, wenn zum Beispiel eine Interessengruppe es besser haben will als die anderen, einen höheren Anteil am Nationalprodukt, so zu sagen ein „größeres Stück Torte“ haben möchte und Privilegien nicht aufgeben will.

 

Mangel ist allgegenwärtig. Darum sucht auch der gesunde Egoismus Vorräte und Überschüsse anzulegen. Das ist noch normal. Nicht mehr normal ist es, wenn sich der Egoismus zur Gier ausweitet. Daraus ergibt sich die

Selbstsucht.

Aus dem Für-sich-haben-wollen entwickelt sich ein Nicht-genug-kriegen-können, ein maßloser, luxurierender Egoismus.

Aktive Selbstsucht äußert sich in Habsucht, Eigennutz, Geldgier, Raffgier, Gewinnsucht, Profitgier, passive Selbstsucht in Geiz und Knauserei.

Der Selbstsüchtige will jeden möglichen Nutzen, jede mögliche Annehmlichkeit für sich in Anspruch nehmen und ist unfähig, freiwillig zu verzichten oder gar ein Opfer zu bringen. Selbstsicherung und Selbstdurchsetzung werden zum Hauptmotiv seines Lebens. Dadurch verhärtet sich sein Herz. Er wird immer mehr unfähig zu verstehender Mitmenschlichkeit und dienender Hingabe an eine Sache oder Aufgabe.

Den Mitmenschen gegenüber wird der Selbstsüchtige hart, kalt und teilnahmslos. Es fehlt ihm an Güte, Mitgefühl, Rücksicht und einfühlendem Verständnis. Er pflegt andere bis zur Gewissenlosigkeit auszunützen. Neid und Missgunst ergreifen ihn, sobald er einen Wert der Nützlichkeit oder eine Möglichkeit des Profites in den Händen anderer sieht.

Der Sachwelt gegenüber fehlt es ihm an echter sachlicher Hingabe, an aufrichtigem Arbeits- und Leistungsgewissen, an Verbindlichkeitsbewusstsein. Er fühlt sich nicht wirklich für die Erhaltung und Förderung sachlicher Werte verantwortlich. Seine Bindung an eine Berufs­aufgabe oder eine Leistungsgemeinschaft reicht gerade so weit, als es zur Befriedigung seiner Egoismen notwendig ist. Die Hauptmotivation des Selbstsüchtigen – auch wenn er es bis in höchste Ränge geschafft hat – ist sein persönlicher Profit, den er im Extremfall bis zur irrationalen Maßlosigkeit verfolgt und für den er andere Werte gewissenlos zu opfern bereit ist.

Selbstsucht kann sich offen in unverstellter und unverschämter Form zeigen, etwa bei verwöhnten Kindern oder im ersten Trotzalter, wenn das Kind in naiv-unverhüllter Weise alles für sich haben will, was es bei anderen sieht. Oder auch in aggressiver Gewalttätigkeit, verbunden mit Grobheit, Rohheit, Rücksichtslosigkeit, launenhafter Willkür, mit primitivster Handgreiflichkeit und Ellenbogentechnik.

In verdeckter Form versteckt sich der Selbstsüchtige hinter routinierter, schlau berechnender Liebenswürdigkeit und verfolgt seine Ziele mit List und Verschlagenheit. Er will sein Gesicht wahren angesichts der sozialen Forderungen von Sitte und Ethos. Eine Sonderform versteckter Selbstsucht wird oft in der Intimität geschlossener Lebensgemeinschaften wirksam, wenn sich der Selbstsüchtige unverhüllt und rücksichtslos durchsetzt, nach außen hin aber den jovialen und umgänglichen Menschen darstellt.

Die Selbstsucht des schwächlichen Menschen tritt in defensiver Form zutage, meistens als Vorsicht, Wachsamkeit, Berechnung, Furchtsamkeit, Misstrauen, Argwohn, oft auch als Heuchelei und Scheinheiligkeit. Er will nichts riskieren, sich nicht exponieren, ist unruhig und ängstlich um sein Wohl und seine Absicherung besorgt. Es fehlt ihm an klarer, offener Redeweise, an Freimut und Überzeugungstreue. Darum wagt er nicht impulsiv und spontan zu sein. Wenn er fügsam und sanftmütig ist, dann aus Angst, herausfordernd zu wirken. Treibt ihn der Ehrgeiz, so wird er zum Streber, der in Kriecherei und Unterwürfigkeit seine Würde preisgibt. Er ist auch der typische Schnorrer, der jede Gelegenheit wahrnimmt, etwas geschenkt zu bekommen.

Gemütsegoismus:

Ziel des Für-sich-haben-wollens ist im Gemütsegoismus die Zuwendung von Liebe und Aufmerksamkeit durch andere. Auch das kann sich zu einem egozentrischen Anspruch bis zu einem Nicht-genug-kriegen-können steigern.

Spezifische Gefühle im Zusammenhang mit Egoismus sind Neid und Eifersucht.

Neid erfasst den Egoisten, wenn er bei anderen Menschen Werte der Nützlichkeit, der Annehmlichkeit, des Besitzes und des Gewinnes sieht, die er selbst nicht oder nicht in dieser Qualität besitzt. Da er sein Selbstwertgefühl aus dem herleitet, was er besitzt, löst der Neid den Impuls aus, dem anderen das Geneidete wegzunehmen oder zumindest selbst das Gleiche zu erwerben. Wenn jemand, z.B. ein Politiker, an seine Neidkomplexe appelliert, lässt er sich leicht zu feindseligen Aktionen hinreißen.

Im Existenzneid neidet der Egoist einem anderen Menschen das Niveau und die Wertfülle seiner Persönlichkeit.

Ressentiment beschleicht den Egoisten als ständig nagendes Neidgefühl, wenn er es nicht dem eigenen Versagen zuschreibt, sondern als Ungerechtigkeit des Schicksals ansieht, dass der andere mehr hat oder dass es ihm besser geht. Aus diesem Ressentiment heraus trachtet er danach, dass der andere geschädigt und in seinem Glück gestört wird.

In der Eifersucht neidet der Gemütsegoist einem anderen Menschen die Liebe und Wertschätzung, die ihm durch einen bestimmten Menschen zuteil wird und die der Gemütsegoist für sich allein in Anspruch nehmen will. Der Eifersüchtige fühlt sich unbeachtet, ungeliebt und ausgeschlossen, gekränkt und verletzt. Er möchte selbst der Bevorzugte sein und den Rivalen wegdrängen, vielleicht sogar aus dem Weg räumen.

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Machtstreben

Das ist der Drang, zu dominieren, im Kampf ums Dasein der Überlegene zu sein, Umwelt und Mitmenschen in Abhängigkeit vom eigenen Ich zu bringen.

Machtstreben hat sich verselbständigt. Es geht nicht mehr um Nützlichkeit oder Zuträglich­keit wie im Egoismus, sondern darum, sich selbst als Macht zu fühlen, andere zu unterwerfen.

Jeder Einzelne ist irgendwie ein Machtzentrum und auch wieder ein Machtobjekt. Beispiel: Hackordnung der Hühner: sie hacken und werden gehackt, nur das mächtigste Huhn hackt alle, das letzte wird von allen gehackt.

Der Umwelt, den Dingen gegenüber geht es vor allem um die Verfügungsgewalt über die Natur mit Hilfe der Technik, aber auch durch intellektuelles Verstehen (Wissen ist Macht).

Wer nichts Positives schaffen kann, lebt sein Machtstreben durch Zerstörung und Vernichtung des Bestehenden aus. Er will auf dem Trümmerfeld des Vernichteten triumphieren. Im Extremfall kommt es zum Satanismus, zum bösartigen Drang, alles Seiende und Bestehende zu negieren und zu zerstören.

Den Menschen gegenüber geht es im Machtstreben darum, das Sagen zu haben, den eigenen Willen durchzusetzen, Autorität, Kontrolle und Herrschaft auszuüben, die Spielregeln festzusetzen, die Entscheidungsgewalt zu haben, in der Gesellschaft eine maßgebende Wirkinstanz zu sein.

Macht wird auch von Gruppen ausgeübt. Darum strebt der Machthungrige eine möglichst einflussreiche Funktion in der Gruppe an. Besonders in der Gruppe ist Macht von Ressourcen abhängig, von Rohstoffen, Territorium, Bevölkerungs- und Finanzstärke, vom militärischen Potenzial, von Allianzen, von Informationen (Geheimdienste).

Positiver Aspekt der Macht: das Streben, Einfluss und Verfügungsgewalt zu erlangen, um dem Gemeinwohl zu dienen - das ist allerdings nicht „Wille zur Macht“, sondern „Wille zum Sinn“.

Positiv ist auch das Streben, im Dienste sachlicher Forderungen durch entsprechende Kenntnisse, Fähigkeiten und Dispositionsmöglichkeiten Einfluss und Autorität zu gewinnen.

Verstecktes Machtstreben:

Die Autorität sachlicher Forderungen kann als Vorwand des Machtstrebens missbraucht werden. Das zeigt sich in Nörgelei, Pedanterie, Prinzipienhaftigkeit. „Es geht mir ums Prinzip!“

Auch Krankheit, Schwäche der Gesundheit, Empfindlichkeiten und Störbarkeiten aller Art, hysterische Reaktionen können als Machtmittel eingesetzt werden, um andere in seine Einflusssphäre zu zwingen, zu schikanieren, zu tyrannisieren.

Im äußeren Verhalten des unechten „Mitleids“ kann sich Machtstreben verbergen, das „Glück der kleinsten Überlegenheit“ (Nietzsche).

Machtstreben kann sich auch in einer Liebe verbergen, die ihr Objekt beherrschen und bevormunden will und ihm jede Selbständigkeit übel nimmt.

Wehtun ist die letzte Möglichkeit der Betätigung des Machtwillens, wenn Überlegenheit auf anderen Wegen nicht erreichbar ist. Es zeigt sich als Bosheit und Grausamkeit, als Sadismus im Geschlechtlichen und sucht den Triumph der Überlegenheit beim Anblick der Not und des Leidens, das man anderen zufügt, beim „Anblick des Unterworfenen“ (Nietzsche).

Charakterologisch gibt es neben dem Normalmaß ein Zuviel und ein Zuwenig an Machtstreben.

In der Herrschsucht ist das Machtstreben unersättlich und beherrscht das ganze Seelenleben. Der Machtmensch oder Herrenmensch erhebt einen selbstverständlichen Herrschaftsanspruch, der die anderen unter seine Faszination zwingt und zum Despotismus führen kann. Besteht keine tatsächliche Einflussmächtigkeit, sondern bloß Selbstüberschätzung, so verbindet sich die Herrschsucht mit Überheblichkeit und Anmaßung.

Im Unterwerfungstrieb zeigt sich – oft im Zusammenhang mit geringem Eigenmachtgefühl – der Drang, sich einer Autorität zu unterwerfen.

Der Gegensatz von Macht und Liebe ist ein sozialpsychologisches Phänomen erster Ordnung. C.G.Jung drückt das so aus: „Wo die Liebe herrscht, da gibt es keinen Machtwillen, und wo die Macht den Vorrang hat, da fehlt die Liebe. Das eine ist der Schatten des andern.“

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Gefühlsregungen,

die anzeigen, ob das Machtstreben auf seine Rechnung kommt oder nicht:

Triumph: Gefühl der Überlegenheit, des Sieges, des Oben-Seins. Weidet sich am Anblick des Unterlegenen, Unterworfenen und erlebt den Impuls, den anderen niederzutreten, sich über ihn aufzuschwingen in einer Gebärde des Sich-Aufrichtens und Sich-Erhebens.

Gefühl der Niederlage, der Kraftlosigkeit, Unterlegenheit, des Am-Boden-Liegens im Anblick einer überlegenen Macht, gegen die wir nicht aufkommen – in Verbindung mit dem Impuls des Zusammensinkens, mit einer Geste oder Haltung der Unterlegenheit.

Gefühle, die immer wieder erlebt werden, führen zu dauerhaften Stimmungen, im Falle des Machtstrebens zu einer Dauerstimmung der Durchsetzungsfähigkeit oder der Machtlosigkeit im Eigenmachtgefühl. Aber das Eigenmachtgefühl registriert nicht so sehr die tatsächliche Durchsetzungsfähigkeit, sondern im Eigenmachtgefühl wirkt sich aus, wie ein Mensch subjektiv seine vermeintliche Mächtigkeit gegenüber den Anforderungen und Anfechtungen des Lebenskampfes erlebt.

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1) Kraftvolles oder sthenisches Eigenmachtgefühl:

Ein Gefühl der Kraft, des Könnens, einer Überlegenheit oder zumindest eines Gewachsenseins.

a) In seiner aktiven Form äußert es sich als Tatendrang, Unternehmungslust, selbständige Zielsetzung, Entschlossenheit, Wagemut. Der Stheniker lässt sich durch nichts einschüchtern und erhebt einen natürlichen Machtanspruch, die selbstverständliche Forderung, Herr der Lage zu sein.

Er hat einen natürlichen Tatsachen- und Wirklichkeitssinn, tritt selbstsicher, entschieden und unbefangen auf, wirkt daher sehr suggestiv und neigt zu echtem Führungsverhalten. Er erobert sich die Umwelt in einem souveränen Umgehen mit ihr, in einem Losgehen auf sie, einem spontanen Heranholen.

Auf Schwierigkeiten reagiert er mit einem kraftvollen Protest des Unwillens und entwickelt eine besondere Alarmbereitschaft und Anspannung des Willens.

In positiver Einstellung zur Zukunft zeigt er Optimimus und Zuversicht, kann sich sorglos freuen, genießen und sich vergnügen. Missmut und Traurigkeit liegen ihm fern. Manchmal wirkt seine Sorglosigkeit und Unbekümmertheit naiv-unkritisch und kann sich zu Verwegenheit und Tollkühnheit steigern.

Förderlich für ein kraftvolles Eigenmachtgefühl sind äußerer Besitz, Intelligenz, Wissen, Körperkraft, Schönheit und gefällige Erscheinung, allgemeine Vitalität, praktische Gewandtheit, Routine, Beherrschung äußerer Formen, vor allem aber häufige Erfolge als Bestätigung der Fähigkeit und Überlegenheit.

Manche Menschen, z.B. Staatsmänner oder Eroberer, fühlen sich in einer Art dämonischen Eigenmachtgefühls als Schicksal der Welt, getragen durch die Macht eines Daimonions.

b) Eine reaktive Form des Eigenmachtsgefühls verkörpert der heiter-beschauliche Mensch. In seiner ausgeglichenen Wesensart strahlt er Ruhe aus und schafft eine erholsame Atmosphäre. Anforderungen und Bedrohungen begegnet er gelassen und selbstsicher.

2) Schwächliches oder asthenisches Eigenmachtgefühl:

Astheniker fühlen sich den Schwierigkeiten und Anfechtungen des Lebens nicht gewachsen, haben wenig Selbstvertrauen und eine Scheu vor Verantwortung und Risiko.

Sie haben wenig Mut zu eigener Zielsetzung, lassen sich lieber Ziele vorgeben und können zu übertriebener Autoritätsgläubigkeit neigen. Sie sind fügsam und nachgiebig, wagen selten zu widersprechen oder Widerstand zu leisten und pflegen auftretenden Schwierigkeiten auszuweichen.

Sie sehen der Zukunft nicht hoffnungsvoll, sondern eher mit Sorge und Furcht entgegen, neigen zu Lebensangst, Traurigkeit und Missmut. Sie sind zaghaft und können sich schwer entschließen.

Sie neigen zu Aufregung und nervöser Gereiztheit, erschrecken leicht und verlieren bei Gefahr leicht den Überblick und die Überlegenheit des Denkens.

In ihrem Auftreten sind sie häufig scheu, befangen, verlegen, schüchtern, selbstunsicher und gehemmt. Oder sie kompensieren diese Haltung mit einer Fassade betonter Forschheit und imponierenden Gebarens.

Oft ziehen sie sich aus der als bedrohlich erlebten Tatsachenwirklichkeit in eine Traum- und Phantasiewelt zurück oder verlieren sich in Grübeleien.

Schwächliches Eigenmachtgefühl erwächst häufig aus dem Bewusstsein irgendwelcher Unzulänglichkeiten auf körperlichem oder geistigem Gebiet, aus Misserfolgen oder aus belastenden Erlebnissen in der Kindheit. Zuweilen begegnet man auch kräftigen und athletischen Menschen, die charakterologisch Astheniker sind.

3) Empfindlichkeit des Eigenmachtgefühls:

Manche Menschen haben -  unabhängig von Erfolg und Misserfolg – ein beständiges Eigenmachtgefühl.

Andere Menschen leiden unter einem schwankenden Eigenmachtgefühl: sie lassen sich schon durch geringfügige Misserfolge und leiseste Kritik entmutigen und reagieren andererseits schon auf kleinste Erfolge und Anerkennungen mit übertriebenem Selbstvertrauen.

Zuweilen ist ein geringes Selbstvertrauen festgefahren, lässt sich durch äußere Einflüsse kaum beeinflussen und kann durch keinerlei Zuspruch oder suggestive Hilfestellung gestärkt werden.

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Geltungsdrang

Im Allgemeinen wird der Mensch von dem Drang beherrscht, im Werturteil der Mitmenschen einen möglichst hohen Rang einzunehmen.

Er strebt nach Anerkennung, Dank, Beachtung, Beifall, Bewunderung, Respekt, Auszeichnung.

Dieses Bedürfnis ist fast so stark wie das Bedürfnis nach Nahrung. Es wäre grausam, wenn nie jemand von uns Notiz nähme, wenn niemand beachtete, was wir tun, niemand Antwort gäbe auf unsere Fragen, wenn jedermann täte, als wären wir Luft ...

Menschen, deren Geltungsdrang gering ist, sind bescheiden, zurückhaltend und schlicht.

In übersteigerter Form kommt es zur

Geltungsucht.

Der Geltungssüchtige kann nicht genug kriegen an Mitteln, die ihm in den Augen der anderen Wert verleihen – an Geld, Besitz, körperlicher Schönheit und Kraft, Wissen, Kenntnissen usw. Er vermutet in allem Besitz eine Möglichkeit der Geltung und kann es nicht sehen, dass andere einen materiellen oder geistigen Besitz haben, der ihnen höhere Geltung verschafft als er, der Geltungssüchtige, zu haben glaubt. Das erfüllt ihn mit Begehrlichkeit, Neid und Missgunst.

Wer es nötig hat, sucht durch vorgetäuschte Werte Geltung zu erlangen. Er will mehr scheinen als er ist, beginnt zu prahlen, anzugeben, aufzuschneiden und sich nach außen ein Format zu geben, das er nicht mit seelischer Substanz ausfüllen kann. Dadurch wird er unecht, hohl, aufgeblasen, affektiert. Sein Reden wird zur Phrase.

Manche suchen sich Geltung zu verschaffen, indem sie Werte, die sie bei anderen finden, herabsetzen. Jedes abfällige, entwertende Urteil über andere ist als Versuch zu betrachten, sich selbst indirekt aufzuwerten.

Manchmal wird auch eine Krankheit oder Schwäche der Gesundheit benützt, um andere zu zwingen, einen wichtig zu nehmen. Oder man versucht, durch die äußere Haltung der Demut und Bescheidenheit, der Selbstlosigkeit oder Unterordnung vor anderen zu glänzen und sie in den Schatten zu stellen. Wieder andere stellen sich als Märtyrer einer gerechten Sache, als zurückgesetzt oder misshandelt hin.

Geltungssucht kann zu einer typischen Prestige-Haltung führen. Dem Geltungssüchtigen fällt es schwer, sich in eine Arbeitsgemeinschaft oder in den Autoritätsbereich anderer Menschen einzuordnen. In jedem Sich-fügen gegenüber fremder Autorität sieht er einen Angriff auf sein Prestige. Daraus entspringen Haltungen wie Starrsinn, Eigensinn, Widerspruchsgeist und Trotz, Eigenbrötelei, Rechthaberei und doktrinäre Unbelehrbarkeit. Der Prestige-Süchtige wird launenhaft, unversöhnlich und nimmt alles übel.

Der Geltungssüchtige sucht die Wirklichkeit nach dem Wunschbild seines Geltungsanspruchs umzufälschen. Er übersieht einfach das, was diesem Wunschbild nicht entspricht. „Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich gibt das Gedächtnis nach.“ (Nietzsche)

Die egozentrische Haltung des Geltungssüchtigen führt ihn immer mehr in die Isolation. Er ist unfähig, sich in die Lage eines anderen zu versetzen und sich vorzustellen, wie der andere die Dinge und Ereignisse von seinem Standpunkt aus sieht. Er sucht die anderen stets mit den eigenen Angelegenheiten zu befassen.

Durch das ständige Hinschielen auf den Eindruck, den er auf andere macht, verliert der Geltungssüchtige jegliche Unbefangenheit, Zufriedenheit und Heiterkeit. Im Extremfall wird er vorsichtig, misstrauisch und argwöhnisch, unaufrichtig und verschlagen, und greift schließlich zu Intrige und berechnender List.

 

Die Gefühlslage im Zusammenhang mit dem Geltungsstreben:

Man fühlt sich geachtet, geehrt oder geschmeichelt, wenn der Geltungsdrang erfüllt wird. Kommt der Geltungsdrang nicht auf seine Rechnung, so reagiert man gekränkt, verletzt und beleidigt. Je stärker der Geltungsdrang, desto größer die Empfindlichkeit und desto heftiger fällt die Kränkung und Beleidigung aus.

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Auf der Grundlage des Geltungsdrangs bildet sich bei jedem Menschen eine durchgehende, mehr oder weniger schwankende Gefühlslage heraus, die Grundstimmung des

Selbstwertgefühls.

Ein gesundes Selbstwertgefühl finden wir bei Menschen, die einer Sache, einer Aufgabe dienen und von dem Sinn und Wert dieser Sache durchdrungen sind.

Ein gehobenes Selbstwertgefühl kann durch persönliche und materielle Werte begründet sein, die ein angemessenes Geltungsstreben stützen. Es kann aber auch andere Ursachen haben:

Das unkritische Selbstwertgefühl beruht auf Selbstüberschätzung bei Menschen mit einem eingeschränkten Horizont. Sie haben vielleicht noch wenig Lebenserfahrung oder sind in einem engen Lebenskreis befangen, über dessen Rand sie nicht hinaussehen, in dem sie aber eine gewisse autoritative Stellung einnehmen, ohne höheren Anforderungen ausgesetzt zu sein.

Ein narzisstisches Selbstwertgefühl ist bei egozentrischen Menschen zu finden, die quasi in ihr eigenes Ich verliebt und unfähig sind, außer dem Ich noch etwas anderes als Wert zu sehen. Bei ihnen finden wir Haltungen wie Selbstbespiegelung, Selbstgefälligkeit, Selbstbewunderung, Koketterie und vor allem Eitelkeit. Der Eitle ist immer nur mit dem eigenen Spiegelbild beschäftigt und hascht nach Anerkennung, Beifall und Bewunderung.

Eine Sonderform ist das Pharisäertum. Der pharisäische Mensch ist selbstgerecht, umgibt sich mit dem äußeren Anschein objektiver Werte und genießt die Verurteilung anderer nach konventionellen moralischen Maßstäben.

Das unechte Selbstwertgefühl ist durch die äußere Gebärde der Überlegenheit und des Stolzes gewaltsam aufgepumpt und soll ein uneingestandenes Minderwertigkeitsgefühl kompensieren und vor anderen verborgen halten. Das unechte Selbstwertgefühl führt zur unechten, hohlen Haltung des Hochmuts und Dünkels.

Mit einer betonten Geste der Nichtachtung und Herablassung soll die Minderwertigkeit der anderen demonstriert und damit die eigene Höherwertigkeit herausgestrichen werden.

Der Hochmütige ist unfähig, die Werte anderer anzuerkennen, und ist gleichzeitig blind gegen die eigenen Fehler.

Der Blasierte tut vornehm und gibt zu erkennen, dass nichts wert ist, seine Aufmerksamkeit zu erregen, dass ihn alles langweilt und gleichgültig lässt, was andere wichtig nehmen. Auch er will damit ein uneingestandenes Minderwertigkeitsgefühl kompensieren.

Das unechte Selbstwertgefühl macht besonders empfindlich. Ein solcher Mensch ist schnell gekränkt und verletzt, humorlos und ungütig, ständig besorgt um sein „Prestige“. Er lässt sich nicht gern etwas sagen und sträubt sich gegen die Rolle des Dienens.

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Das Minderwertigkeitsgefühl:

Das ist eine dauerhafte Gestimmtheit, die sich durch immer wieder auftretende Anlässe, sich minderwertig zu fühlen, herausbildet. Solche Anlässe können sein:

Körperliche Mängel, z.B. das Gefühl, eine schlechte Figur zu haben, zu klein, zu dick, plump und hässlich oder missgestaltet, vielleicht auch sexuell impotent zu sein.

Soziale Mängel, z.B. aus einer „niederen“ Schicht zu kommen, arm zu sein, keine gesellschaftliche Routine zu haben.

Persönliche Mängel, z.B. unzureichende Intelligenz, geringes Wissen und Können, moralische Unzulänglichkeiten, das Bewusstsein einer Verfehlung oder Schuld.

Es ist ganz entscheidend, wie ein vorhandenes Minderwertigkeitsgefühl verarbeitet wird.

In der direkten Kompensation wird versucht, eine deprimierend erlebte Unzulänglichkeit durch verstärktes Training auszugleichen und vielleicht in eine besondere Fähigkeit umzuwandeln (Behindertensport, Selfmademan; Demosthenes, der Stotterer, der sich durch Sprechtraining mit Kieselsteinen im Mund zum großen griechischen Redner entwickelte).

In einer unechten Kompensation wird das Minderwertigkeitsgefühl nicht verarbeitet und überwunden, sondern nur übertönt und verdrängt. Das Selbstwertgefühl wird aufgepumpt durch betonte Forschheit, Prahlerei, Imponiergehabe, Anmaßung, Rechthaberei, Trotz und Eigensinn.

In der Resignation wird der natürliche Selbstwertanspruch aufgegeben. Es kommt zu Verzagtheit, Kleinmut und Selbstzweifeln, unter Umständen zu Selbstverachtung und totaler Entmutigung. Solche Menschen fühlen sich überflüssig oder gar störend, werden scheu, gehemmt, verlegen und allzu bescheiden. Ihre Haltung ist gleichsam eine dauernde Entschuldigung dafür, dass sie überhaupt da sind.

Glücklich der Mensch, der aus der Resignation herausfindet, indem er eine Aufgabe sucht und findet, der er sich ganz widmet, an deren Verwirklichung er mitarbeitet und die seinem Leben Halt und Sinn gibt.

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Das Anspruchsniveau:

Selbsterhaltungstrieb, Besitzstreben, Machtstreben und Geltungsdrang sind eng miteinander verflochten und stehen in wechselseitiger Beziehung. Aus diesen Bedürfnissen heraus stellt jeder Mensch bestimmte Ansprüche an seine Umwelt und seine Mitmenschen.

Aus dem Selbsterhaltungstrieb ergeben sich Ansprüche auf Mittel der rein biologischen Lebensfristung, z.B. auf Nahrung, Kleidung, Wohnung. Ferner stellen wir Ansprüche auf Besitz zur ökonomischen Sicherstellung, auf Wohlergehen und Behagen, auf Rücksicht und Fürsorge durch andere. Dazu kommen die Ansprüche auf Macht und Führung, Geltung und Anerkennung.

Aus all dem ergibt sich charakterologisch das Anspruchsniveau. Es kann maßvoll, niedrig oder überhöht sein.

Menschen mit niedrigem Anspruchsniveau sind bescheiden und genügsam. Ein Mensch, der zudem auch gutmütig ist, gibt selbst seine geringen Ansprüche leicht auf, sobald sie ihm streitig gemacht werden. Der Gutmütige ist nicht empfindlich, nimmt selten etwas übel und unterstellt sich leicht der Führung durch andere.

Menschen mit erhöhtem Anspruchsniveau sind in besonderem Maß auf persönliche Vorteile, auf Macht und Geltung bedacht und leisten energischen Widerstand, wenn ihre Ansprüche beeinträchtigt werden.

Beim verwöhnten Menschen wurde das übersteigerte Anspruchsniveau durch Erziehung und Vorbild hervorgerufen.

Der unbescheidene Mensch kann nicht genug kriegen, denkt nur an sich und gesteht anderen nicht die gleichen Ansprüche und Rechte zu.

Der arrogante Mensch stellt einen erhöhten Anspruch auf Geltung, der in auffallendem und herausforderndem Widerspruch zu seiner objektiven Berechtigung steht.

Die Erfüllung unserer Anspruche erleben wir in der Gefühlsregung der Zufriedenheit, ihre Nichterfüllung in der Unzufriedenheit. Wer sich zufrieden gibt, kann ruhig und entspannt bleiben, wer sich nicht zufrieden gibt, sieht der Erfüllung eines Anspruches mit Unruhe und Spannung entgegen und reagiert auf die Nichterfüllung mit Ärger und Verbitterung.

Zufriedenheit und Unzufriedenheit können sich zu einer dauerhaften Stimmung verfestigen.

Zufriedenheit ist ein Friede der Seele, der frei macht von der Unruhe und Gespanntheit unerfüllter Ansprüche. Sie ist immer verbunden mit Heiterkeit.

Unzufriedenheit ist meistens die Folge eines erhöhten Anspruchsniveaus und sitzt wie ein Stachel in der Seele, der den Menschen nicht zur Ruhe kommen lässt. Die Unzufriedenheit ist wie ein Fass ohne Boden, immer durchstimmt von dem, was man nicht hat. Daraus erwachsen Neid und Ressentiment, Missmut und Verdrossenheit.

Das subjektive Gefühl von Glück oder Unglück hat auch mit der Höhe des Anspruchsniveaus zu tun.

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Der Vergeltungsdrang:

Dieser Begriff wird häufig gleichgesetzt mit Rachsucht und Ressentiment, er hat aber auch eine positive Komponente: die Dankbarkeit.

Die Dankbarkeit will Gutes mit Gutem vergelten. Sie übt also Vergeltung im positiven Sinn als Reaktion auf das, was man von anderen Gutes und Förderliches erfahren hat.

Rachsucht kommt auf, wenn Strebungen wie Selbsterhaltungstrieb, Besitzstreben, Machtstreben und Geltungsdrang unerfüllt bleiben oder ein Mensch in diesen Ansprüchen geschädigt wird. Jenem, der die Erfüllung eines Anspruchs verhindert oder die Schädigung verursacht hat, soll ebenfalls Schaden zugefügt werden. „Das sollst du mir büßen!“

Ganz anders zeigt sich der Vergeltungsdrang im Ressentiment:

Das Ressentiment erwächst aus dem Bewusstsein, dass der andere gerade das erreicht hat oder besitzt, was einem selbst versagt ist. Die „Schuld“ des anderen besteht darin, dass er Werte besitzt, die uns selbst vorenthalten sind, auf die wir verzichten müssen. Er hat vielleicht mehr Erfolg, oder er hat Zugang zu Genüssen, die uns versagt bleiben.

Das Ressentiment entsteht immer aus dem Bewusstsein, es schlechter zu haben als die anderen, zu kurz gekommen und vom Schicksal benachteiligt zu sein. Das weckt den Drang, sich an den Glücklicheren zu rächen, ihr Glück zu stören. Vielleicht schikaniert man als Vorgesetzter die anderen, oder man tyrannisiert als alter Mensch die Jugend mit dem Ernst des Lebens.

Der vom Ressentiment Getriebene versucht Werte, die er sich selbst nicht zu geben vermag, überall dort herabzusetzen, so er sie an anderen findet – nach dem Motto: Du bist auch nicht mehr als ich.

Oft sucht sich diese Entwertungstendenz den Anschein der Objektivität zu geben, etwa dadurch, dass ideale Forderungen gestellt oder dogmatische Prinzipien und Werte herangetragen werden, hinter denen die Wirklichkeit unweigerlich zurückbleiben muss. Oft äußert sich Ressentiment auch in religiösem oder moralischem Fanatismus.

Ein wohltuender Gegensatz sind Großmut und Gutmütigkeit, die frei sind von der Erbitterung und Verbitterung der Rachsucht und des Ressentiments.

Der Großmütige ist aktiv und wirkt zum Wohle und im Interesse der Mitmenschen, ohne zu fragen, ob der andere der erwiesenen Wohltat auch würdig ist, ob er sie verdient hat und ob von ihm Dank zu erwarten ist.

Der Gutmütige antwortet auf die Störungen seiner Ansprüche nicht mit Vergeltung und ist bereit, seine Ansprüche zurückzunehmen oder aufzugeben, ohne Widerstand zu leisten.

Gefühlsregungen des Vergeltungsdranges:

Dankbarkeit ruft Gefühlsregungen hervor, die sich positiv auf Seele und Körper auswirken. Wer bewusst nach Dingen und Ereignissen sucht, für die er dankbar sein kann, betreibt wirkungsvolle Psychohygiene.

Wer Rache genommen hat, erlebt Genugtuung, die vielleicht darin zum Ausdruck kommt, dass er sich zurücklehnt und die Hände reibt.

Schadenfreude ist das spezielle Gefühl, mit den die Erfüllung des Ressentiments erlebt wird. Es ist die Freude darüber, dass der andere einen Verlust an Besitz und Macht, eine Niederlage, eine Schädigung seines Prestiges, eine Blamage erlitten hat. Der Schadenfrohe erlebt das als „gerechten“ Ausgleich des Schicksals.

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Das Eigenwertstreben

 

Im Geltungsstreben sucht der Mensch sein Wertbild im Spiegel des Urteils seiner Mitmenschen, er hält sich an das, was andere von ihm denken. In der jugendlichen Reifezeit erkennt er, dass er das, was er ist, nicht mehr nur vor den Mitmenschen, sondern auch vor sich selbst zu verantworten hat.

Er entdeckt, dass er als Person einmalig, unverwechselbar und unwiederholbar ist. Er spürt, dass er mit einer gewissen Freiheit wählen und entscheiden kann und für seine Entscheidungen verantwortlich ist.

Es kommt ihm zum Bewusstsein, dass er eine Aufgabe zu erfüllen hat, dass er an der Erhaltung und Entwicklung seiner Umwelt mitarbeiten muss und darf. Er findet ein gewisses Sinngefüge vor und spürt eine Berufung, an diesem Sinngefüge mitzuarbeiten, es zu pflegen. Er erkennt, dass aus der Mitarbeit an diesem Sinnbestand der Welt sein eigenes Leben seinen Sinn empfängt.

Damit bricht ein Fragen und Suchen nach Sinnwerten auf, von denen das eigene Dasein seinen Sinn empfängt.

Darin liegt die Dynamik des Eigenwertstrebens.

Aus diesem Streben, eine gewisse Unabhängigkeit vom Urteil der Mitmenschen zu gewinnen und in sich selbst eine Wertordnung aufzubauen, bildet der Mensch in sich selbst eine Instanz aus, die ihm zeigt, was an seinem Tun und Lassen wertvoll ist und was nicht – das Gewissen.

Diese Suche nach einer eigenverantwortlichen Wertordnung hält zwar das ganze Leben hindurch an, bricht aber in der Pubertät mit einer krisenhaften Dynamik, mit einem revolutionären Pathos auf. In diese turbulente Zeit fällt die Geburtsstunde der eigenständigen Persönlichkeit.

Nun genügt es dem Menschen nicht mehr, sein Genussstreben und seinen Tätigkeitsdrang im „Willen zur Lust“ auszuleben und sich als Individuum auf der Grundlage von Besitz, Macht und Geltung eine durchsetzungsfähige Position aufzubauen.

Nun entfaltet sich eine neue Strebungsthematik – der „Wille zum Sinn“.

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Die Gefühlserlebnisse des Eigenwertstrebens:

Minderwertigkeitserlebnis und Scham sind Gefühlsregungen, in denen die Thematik des Geltungsstrebens noch mitschwingt, aber der eigentliche Schwerpunkt in der Thematik des Eigenwertstrebens liegt.

Im Minderwertigkeitserlebnis wird zwar eine Einbuße an Ansehen und Geltung miterlebt. Der Schwerpunkt liegt aber darin, dass der Mensch infolge eines unqualifizierten Handelns und Verhaltens eine Wertminderung in der Verschwiegenheit der eigenen Selbstbewertung erlebt.

In der Scham sind es zwar immer die anderen, vor denen wir uns schämen, weil sie Mitwisser eines minderwertigen Verhaltens geworden sind. Zugleich aber erlebt man eine Werteinbuße vor sich selbst.

In der Selbstachtung, Selbstverachtung und Reue verlagert sich der Schwerpunkt gänzlich nach innen; es geht nur mehr um die Thematik des Eigenwertstrebens.

In der Selbstachtung oder Selbstverachtung stehen wir uns selbst als unser eigener Beurteiler und Richter gegenüber. Es geht nicht mehr um das Urteil der Mitwelt.

Reue:

Nicht alles, was nach Reue aussieht, ist auch wirklich Reue. Wenn wir als Folge unseres Verhaltens mit unerfreulichen Konsequenzen oder gar mit Bestrafung zu rechnen haben, empfinden wir nicht Reue, sondern wir ärgern uns und sich unzufrieden mit uns selbst unter dem Motto: „Was habe ich für eine Dummheit gemacht!“

Bei der wirklichen Reue geht es nicht um die äußeren Folgen einer Tat, sondern darum, dass wir uns an unserem eigenen inneren Wert versündigt haben, dass wir als Person versagt haben.

Wir erschrecken darüber, dass wir einer solchen Tat fähig waren. Der Reuige sagt nicht einfach, „ach, was habe ich getan!“, sondern „ach, was muss ich für ein Mensch sein, dass ich so etwas tun konnte!“

Aus der Reue erwächst ein starker Ansporn zu einer Läuterung unseres Selbstes, die Bereitschaft, ein anderer Mensch zu werden.

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Der Wille zum Sinn

 

Der Gesellungsdrang

In den Strebungen nach Lustgewinn, nach Besitz, Macht und Prestige bezieht der Mensch im Grunde stets die Welt auf sich. Er lebt selbstbezogen, auf das Ego zentriert.

Im Gesellungsdrang möchte der Mensch aus dem engen Ichhorizont heraustreten und am Bewusstseinshorizont anderer Menschen teilnehmen, sich mitteilen, das Weltbewusstsein der anderen teilen.

Im Gesellungsdrang tritt der Mensch mit anderen Menschen auf eine gemeinsame Bühne, auf der jeder eine Rolle zu spielen hat, oder auch mehrere Rollen. Die Menschen suchen gegenseitigen Kontakt, treten miteinander in Kommunikation, jeder sucht Resonanz und bietet Resonanz.

Die zwischenmenschliche Kommunikation ruht auf zwei Säulen: Sprache und Einfühlung. Die Sprache kann manipuliert und sogar zur Täuschung missbraucht werden. Die größere Wirkung geht aber von dem aus, was ein Mensch wirklich ist. „Was du bist, tönt so laut, dass ich nicht hören kann, was du sagst.“ (Ralph Waldo Emerson)

Das Miteinander erfordert soziale Anpassung und bietet Gelegenheit zur Nachahmung. Der heranwachsende Mensch entfaltet sich zum Reichtum seines Tuns und Verhaltens weitgehend am Leitfaden dessen, was er bei seinen Mitmenschen sieht.

Der Mensch braucht zur ausgewogenen Entwicklung seiner Persönlichkeit einen rhythmischen Wechsel zwischen Miteinander und Alleinsein. Zu wenig Kontakt kann in die Isolation führen, zuviel Kontakt kann einen Menschen zum bloßen Widerschein und Echo seiner Mitwelt machen.

Extravertierte Menschen haben ein starkes Bedürfnis, mit anderen beisammen zu sein. Sie brauchen die Mitmenschen als Horizont und Widerhall ihres eigenen Daseins und suchen daher möglichst oft die Gesellschaft mit möglichst vielen Menschen. Der Extravertierte denkt am besten, während er mit anderen redet, und er tankt seine Energie auf, wenn er unter Menschen ist – allein in einem Zimmer hätte er bald das Gefühl, dass ihm die Decke auf den Kopf fällt.

Introvertierte Menschen brauchen dagegen mehr Zeit für sich allein, um in der Stille nachzudenken, über Erlebnisse und Gefühle ins Reine zu kommen und neue Energie aufzutanken. Auch der Introvertierte sucht Gesellschaft, aber am liebsten jeweils mit einigen wenigen Menschen gleichzeitig. Große Gesellschaft oder in die Länge gezogene Kontakte ermüden ihn.

Die Neigung zu Extraversion oder Introversion scheint angeboren zu sein. Von Geschwistern ist oft das eine extravertiert, ein anderes introvertiert. Extravertierten und Introvertierten sollte zugestanden werden, mit mehr oder weniger Geselligkeit zu leben (ohne ins Extrem zu fallen!), weil davon abhängt, ob ihnen genug Lebensenergie zur Verfügung steht.

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Gefühlsregungen des Miteinanderseins:

Sympathie bewirkt, dass ein Mensch als Partner des Miteinanderseins akzeptiert wird, dass wir ihn leiden können und Kontakt mit ihm suchen.

In der Antipathie wird der andere als Partner abgelehnt. Wir können ihn nicht ausstehen, lehnen den Kontakt mit ihm nach Tunlichkeit ab und gehen ihm aus dem Weg.

In den Regungen der Achtung und Verachtung spielt die verstandesmäßige Beurteilung mit. Der andere wird beurteilt auf dem Hintergrund einer objektiven – wenn auch meist individuell oder traditionell modifizierten – Wertordnung.

In der Achtung wird der andere für würdig befunden, uns auf der Bühne des Miteinanderseins als gleichwertiger Partner – so zu sagen auf Augenhöhe – zu begegnen.

In der Verachtung wird der andere nicht für würdig erachtet, Partner des Miteinanderseins zu sein. Wir streichen ihn aus der Reihe der zählenden Mitspieler und blicken über ihn hinweg oder an ihm vorbei.

Ein ritterlicher Mensch achtet die Würde des anderen auch, wenn er ihn in der Position des Schwächeren sieht – etwa als Frau oder als besiegten Feind – und mutet ihm nichts zu, was mit seiner Würde unverträglich wäre.

Der Geltungssüchtige ist unfähig, einen anderen Menschen als gleichwertig zu betrachten und versucht, durch die äußere Geste der Verachtung seinen eigenen Wert herauszustreichen.

In der Verehrung blicken wir zum anderen auf. Wir schreiben ihm einen Wert zu, den wir selbst nicht besitzen und betrachten es als Vorzug, ihm begegnen zu dürfen.

In der Anwandlung des Spottes finden wir den anderen lächerlich. Aber wir wenden uns nicht ab (wie in der Verachtung) sondern wenden dem anderen unsere Aufmerksamkeit zu, zuweilen sogar mit Sympathie und in versöhnlicher Haltung.

Der Hohn hingegen äußert sich in ätzender Abwertung und schließt eine positive Gefühlsregung zum anderen aus.

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Die Strebungen und Gefühlsregungen des Füreinanderseins

Im Füreinandersein fühlt sich ein Mensch mitverantwortlich für das Wohl und Glück anderer.

Der wohlwollende Mensch ist anderen Menschen gegenüber positiv aufgeschlossen, wird aber erst dann aktiv, wenn vom anderen der Appell um Hilfe an ihn herangetragen wird.

Der spontan hilfsbereite Mensch wartet nicht, bis er um Hilfe gebeten wird, sondern wird von sich aus tätig, wenn er merkt, dass Hilfe gebraucht wird. Diese aktive Hilfsbereitschaft kommt in der Haltung der Güte zum Ausdruck.

Aus dem Wohlwollen und der Hilfsbereitschaft entspringt das Mitgefühl.
Der vom Mitleid Ergriffene will dem anderen helfend beistehen,
in der Mitfreude will man alles tun, um den anderen in seiner Freude zu erhalten.

Mitgefühl führt zu Haltungen wie Güte, Herzlichkeit, Teilnahmebereitschaft, Rücksicht, Zartgefühl, menschliche Wärme, Gemüt.

Die mitmenschliche Liebe:

Geschlechtliche Liebe gehört nicht in die Thematik des Füreinanderseins, sondern ist eine Sonderform des Lebensdrangs. Solange es nur um (einseitige oder gegenseitige) Triebbefriedigung geht, ist nicht Liebe, sondern Begierde im Spiel. Der Geschlechtstrieb ist ein Naturphänomen von ungeheurer Dynamik mit dem biologischen Ziel, den Fortbestand der Menschheit zu sichern.

Echte Liebe begegnet uns in zwei Spielarten: in der erotischen Liebe und in der humanen Liebe. In diesen beiden Formen der Liebe erlebt der Mensch in der Innerlichkeit seines Herzens einen Anruf, für den anderen Menschen da zu sein und mitzuwirken, dass er seiner Anlage gemäß zu Wohlergehen, Glück und Erfüllung gelangen kann. In der Liebe wird der andere als ein Wert für sich erlebt, den es zu hegen und zu pflegen gilt. „Es ist gut, dass es dich gibt.“

Liebe ist mehr als Verliebtheit. Verliebt ist man in äußerliche Eigenschaften und Reize, vielleicht in die Augen, die Stimme, die Hände, in Liebreize der Gestalt, in eine bestimmte Art, sich zu bewegen. Der Verliebte fühlt sich dem Du nicht verpflichtet, er kann sich unversehens in eine andere Person verlieben.

Die erotische Liebe

erfasst den geliebten Menschen in seiner ganzen Existenz und macht ihn zum zentralen Wert- und Sinngehalt. Die Liebenden erfahren einen ungeheuren Aufschwung der Lebendigkeit. Alles wird intensiver, tiefer, unmittelbarer erlebt, die Eindrücke farbiger und wärmer, die Bewegungen beschwingter. Die Gegenwart des geliebten Menschen wird zum immer neuen und beglückenden Geschenk.

Die humane Liebe

will nichts mehr für sich selbst, sie will nur da sein für den anderen Menschen um dessen höherer Wertmöglichkeiten willen.

Humane Liebe kann aus der erotischen Liebe hervorgehen, wenn der geliebte Mensch nicht so sehr als ein „Wert für mich“, sondern in seiner personalen Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit als ein Wert für sich erfahren wird. Humane Liebe wird vor allem auch dann wachgerufen, wenn aus der liebenden Vereinigung ein Drittes hervorgeht und als ein neuer Sinngehalt erlebt wird, der gehegt und gepflegt werden muss: das Kind.

Haltungen der humanen Liebe sind Fürsorge, Treue und bis zur Selbstaufopferung gehende persönliche Hingabe. Die humane Liebe will nichts mehr für sich, sie will nur da sein für den anderen um dessen höherer Wertmöglichkeiten willen. Sie sieht den anderen als „Idee“ – so „wie Gott ihn gemeint hat“. Soweit darin auch ein erzieherisches Moment liegt, wird vom „pädagogischen Eros“ gesprochen.

„Das ist die wahre Liebe, die immer und immer sich gleich bleibt,
wenn man ihr alles gewährt und wenn man ihr alles versagt“ (Goethe, Die Jahreszeiten).

Der mitmenschliche Hass ist die fundamentale Umkehrung der Liebe. Im Hass wird der andere als ein Unwert erlebt, der die Sinnhaftigkeit der Welt und der eigenen Existenz verhindert und zerstört. Der Hass fühlt sich zur Vernichtung des Gehassten aufgerufen und sei es unter Einsatz der eigenen Existenz. Hass ist also viel mehr als bloße Gehässigkeit.

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Soziale und asoziale Gesinnungen:

Wenn wir einen Menschen kennen lernen, möchten wir wissen, was wir von ihm zu erwarten haben, ob der sozial oder asozial gesinnt ist.

Sozial gesinnt ist ein Mensch, der von Wohlwollen, Helfenwollen, Güte und Liebe, besonders von der humanen Liebe beseelt ist.

Wenn soziale Gesinnungen lediglich fehlen, so kann ein Mensch rücksichtslos, roh und brutal sein, weil er seelisch blind und unempfindlich ist für das, was er dem anderen antut.

Asoziale Gesinnungen:

Bei asozialer Gesinnung ist der Mensch nicht bloß blind für den anderen, sondern gegen den anderen gerichtet. Die Gesinnung ist umgekehrt in Feindschaft und Übelwollen, in die Tendenz, dem anderen zu schaden.

Asoziale Gesinnung geht fast immer mit Aggression einher, die auf Störung und Zerstörung gerichtet ist. Aggressionen entstehen aber nicht aus einem originären „Aggressionstrieb“, sondern können stets aus anderen Strebungen abgeleitet werden.

Aggressionen der Selbsterhaltung zeigen sich im Beute machen oder im Gegenangriff bei Bedrohung.

Der Geschlechtstrieb kann im Zustand sexueller Erregung zu Aggressionen führen (gefügig machen, Rivalen aus dem Feld schlagen, vielleicht sogar töten).

Selbstsüchtige erleben schon von vornherein fast Jeden als Rivalen und werden aggressiv.

Bosheit will die Überlegenheit im Wehtun erleben (Machtstreben). Tückische Bosheit erweist sich in der Intrige: der Intrigant sucht die Gemeinschaft zu stören oder gar zu zerstören, indem er die Menschen gegeneinander hetzt.

Aus Bosheit, Rachsucht und Ressentiment ergibt sich die Haltung der Gehässigkeit.

Ärger, Wut und Gereiztheit können sich direkt gegen den Menschen richten, der die Störung oder Beeinträchtigung verursacht hat. Eine gleichsam anonyme Aggressivität entlädt sich indirekt gegen (oft unbeteiligte und unschuldige) Ersatzobjekte.

Aggressionen zur Verdrängung eines schlechten Gewissens machen die Umwelt zum Blitzableiter des Unbehagens mit sich selbst.

Zynismus missachtet bewusst Wertordnungen und Wertbindungen anderer Menschen – immer in der Absicht, die Gefühle des anderen zu verletzen. Das Motiv des Zynismus ist entweder Bosheit (weh tun wollen) oder Ressentiment (Rache dafür, dass man selbst jene Lebensfülle und jenen Halt im Dasein nicht hat und sie deshalb auch anderen nicht gönnt).

Sarkasmus hat die Tendenz, Werte, die von anderen anerkannt und gläubig hingenommen werden, dadurch fragwürdig zu machen, dass man ihre Schwächen und Unzulänglichkeiten schonungslos aufzeigt. Motiv des Sarkasmus kann eine Art Wahrheitswille sein, der alle Selbsttäuschungen, Lebenslügen und Illusionen bekämpfen will.

 

Einfühlung als Nacherleben ohne Mitgefühl:

Die Fähigkeit, sich in die seelische Lage anderer Menschen einzufühlen, kann auch ein bloßes Nacherleben ohne Mitgefühl sein.

Ein feiner Spürsinn für seelische Zustände und Vorgänge anderer steht oft im Dienst einer rein theoretischen Neugier oder auch eines rücksichtslosen Egoismus.

Die Grausamkeit kostet nacherlebend der Schmerz, das Leiden des anderen aus.

Die Schadenfreude weidet sich daran, dass der andere leidet, sich ärgert, sich verletzt fühlt und die Niederlage und Versagung seiner Ansprüche erlebt.

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Schaffensdrang:

Der Drang, durch eigenes Tun etwas in die Welt zu stellen, was ihren Wertbestand erhöht.

Meistens geht es um eine Mitarbeit, um ein Mitschaffen an einem objektiven Wertprojekt, z.B. an einem wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Unternehmen, an einem Kraftwerksbau, an der Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung oder an der Sauberhaltung der Straßen. Die Szenerien und Zwecke sind von einer unendlichen Vielfalt.

„Immer strebe zum Ganzen, und kannst du selber kein Ganzes
Werden, als dienendes Glied schließ an ein Ganzes dich an.“ (Goethe, Die Jahreszeiten)

Der Schaffensdrang kann als Leistungsstreben oder als Gestaltungsdrang wirksam werden.

Im Leistungsstreben wird das eigene Schaffen in seinen Ergebnissen Stück für Stück übergeordneten, objektiven Zusammenhängen eingefügt.

Dem Gestaltungsdrang genügt nicht einfach die Schaffung einer nützlichen Sache, eines praktischen Wertes. Er trägt vielmehr auch das Bild einer kreativen Gestaltung in sich, die der geschaffenen Sache über den rein funktionalen Nutzen hinaus einen besonderen Stil verleihen soll.

Für eine gute Leistung genügen Fleiß und Talent. Die ausdrucksvolle Gestaltung bedarf der kreativen Phantasie und manchmal auch des Genies.

Im eigentlichen Leistungs- und Gestaltungsdrang geht es um das Ergebnis als Zuwachs des Wertbestandes der Welt. Die Leistung kann aber auch als Mittel zum Erwerb aufgefasst werden und dient dann der Selbsterhaltung und der Erhöhung des Besitzstandes.

Der Leistungsehrgeiz entspringt dem Geltungsdrang. Durch die Leistung soll der eigene Geltungswert erhöht werden. Jedenfalls können unabhängig von der eigentlichen Motivation hohe objektive Werte geschaffen werden.

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Der Wissensdrang:

Der Wissensdurstige strebt nach Erkenntnis, nach Durchblick und Übersicht, nach wissender Teilhabe an Sachverhalten und Zusammenhängen um ihrer selbst willen.

Dem Wissensdrang geht es um die Erweiterung des geistigen Welthorizontes, um Wissen an sich, um zweckfreie Einsicht in Sachverhalte und Zusammenhänge, um die Teilnahme an der Erforschung eines Sachgebietes.

Der Wissensdrang erweckt Interesse für etwas, z.B. für Mathematik, Astronomie, Politik, Geschichte, Kunst, Psychologie, Botanik, nicht Interesse an etwas, z.B. an Macht und Geltung, an Spiel und Sport, an materiellem Gewinn usw.

Der Spruch „Wissen ist Macht“ gehört nicht zur Thematik des Wissensdrangs.

Von oft schicksalhafter Bedeutung ist das Verhältnis zwischen Interessen und Begabungen. Oft fehlen für vorhandene Interessen die Begabungen und oft liegen Begabungen mangels Interesse brach.

Der Wissensdrang löst spezielle Gefühle aus: die noëtischen Gefühle
(Staunen, Bewunderung, Zweifel und Überzeugung):

Die Suche nach Erkenntnis ist keine abgehobene und emotionslose Aktivität des Intellekts. Vielmehr löst ein aus der Tiefe der Seele aufdrängender Urtrieb die Sehnsucht aus, an dem unendlichen Reichtum der Gestaltungen der sichtbaren und unsichtbaren Schöpfung wissend teilzuhaben und in dieser wissenden Teilhabe eine persönliche Sinnerfüllung zu erleben. Jede Erkenntnis löst Staunen aus, weil sie in eine unauslotbare Tiefe der Unendlichkeit verweist. Der Mensch erlebt sich als Wesen, das darauf angelegt ist, diesen Reichtum in seiner Seele zu spiegeln. Erkennen, Wissen und Erahnen wird zum Wert an sich. Ginge es nur um Zwecke und Brauchbarkeiten, so wäre die Gefühlsreaktion nicht Staunen, sondern Genugtuung.

Auf der Suche nach Erkenntnis wird vieles klar, zeigt sich als besonders gelungen, schön und meisterhaft und erregt Bewunderung. Anderes gibt sich nur andeutungsweise preis und weckt Zweifel. Und immer wieder einmal prägt sich eine Einsicht so überwältigend ein, dass sie zur Überzeugung wird.

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Die Liebe zu etwas:

In der Liebe zu etwas – zur Heimat, zur Natur, zur Kunst usw. – engagiert sich der Mensch für etwas, dessen Existenz einen Sinn hat und der daher zum Sinnbestand der Welt gehört.

Er will die Möglichkeit einer Welt nicht zulassen, in der der Gegenstand der Liebe fehlt. Darum fühlt er sich verpflichtet, am Dasein und Sosein des geliebten Gegenstandes mitzuarbeiten, an seiner Werterscheinung mitzuwirken und ihn zur Geltung zu bringen als eine Idee, um die es in der Welt geht. Die Liebe verleiht ihrem Gegenstand gleichsam ein metaphysisches Gewicht.

Der von der Liebe zu etwas Ergriffene fühlt sich durch sein Engagement hereingenommen in diesen Sinn und erlebt dadurch seine eigene Sinnerfülltheit. Je nachdem, um welches Sachgebiet es geht, fühlt er sich ergriffen von einem wissenschaftlichen, pädagogischen, künstlerischen Eros.

In der Pubertät bricht ein Suchen und Fragen nach Gehalten der Liebe und Begeisterung auf in der Erwartung, dass die Welt eine inhaltlich bestimmte Antwort geben wird. Findet der junge Mensch diese Antwort, dann geht seine gegenstandslose Sehnsucht über in die eigentliche Liebe und Begeisterung für etwas.

Manche Menschen kommen über die Pubertätsform der Liebe, die gegenstandslose Sehnsucht, nicht hinaus und finden ihre Sinnwelt, ihr eigenes Zentrum, den tragenden Grund ihrer Existenz nicht.

Die Dynamik, die der Liebe zu etwas innewohnt, kann sich umkehren in Hass.

Die zerstörerische Tendenz des Hasses liegt in der Überzeugung, dass eine Welt sinnwidrig ist und nicht sein soll, in der das Gehasste einen Platz hat. Darum ist der Hass immer auf die Vernichtung seines Gegenstandes gerichtet. „Wer hasst ein Ding und möchte’ es nicht vernichten?“ (Shakespeare).

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Die Liebe zu normativen Werten

Aus dieser Strebung heraus fühlt sich ein Mensch verpflichtet, wahrhaftig und gerecht zu sein und seine Pflicht zu erfüllen, sich aber auch einzusetzen für Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Pflichterfüllung.

Diese normativen Werte werden häufig aus Einsicht des Verstandes zur Organisation eines Gemeinwesens, mit Blick auf die Zweckmäßigkeit eines Tuns oder Unterlassens, im Hinblick auf Folgen und Erfolg eingesetzt. Das ist notwendig und in Ordnung. Darum sind wir von Kind auf mit Geboten und Verboten konfrontiert.

Im inneren Reifeprozess geht es jedoch um eine Ergriffenheit von diesen ethischen Werten aus der Tiefe der Seele. Erst dann kann sich ein persönliches Aufgabe- und Verbindlichkeits­bewusstsein entwickeln, das nicht mehr von Lohn und Strafe abhängt.

Je stärker diese normativen Strebungen und Bindungen sind, desto weniger Spielraum bleibt für Wünsche des Genusstrebens, für Egoismus, Macht- und Geltungsstreben. Es geht jedoch nicht um die grundsätzliche Negierung dieser Regungen, also nicht um Askese per se. Wenn sich ein Mensch in seinem Leben mit persönlichem Engagement für die Realisierung dieser normativen Werte und überhaupt für Sinnwerte einsetzt, bleibt einfach weniger Zeit und Kraft für jene eher ich-zentrierten Wünsche übrig.

Wenn die ethische Grundforderung nach Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Pflicht durch eine Handlung, ein Verhalten oder eine Unterlassung missachtet wird, so wird aus den normativen Strebungen heraus der Impuls des Einspruchs und Protestes ausgelöst.

Die Entrüstung beschränkt sich auf den verbalen Protest.

In der Empörung entfaltet sich zudem ein Impuls des Sich-aufrichtens, des Sich-empor-richtens.

Der Zorn findet seinen kraftvollen Ausdruck in einer Gebärde des Angriffs gegen die Instanz, durch die das Gesetz dessen, was sein und geschehen sollte, beleidigt wurde.

Wut hat nichts mit Zorn zu tun. Die Wut ist immer egozentrisch und primitiv.

Aber zornig ist man immer im Namen dessen, was nach allgemein gültigen Normen geschehen soll. Der gerechte Mensch kann in Zorn geraten, aber niemals in Wut.

Entrüstung, Empörung und Zorn können auch missbraucht werden, um sich ein Gefühl der Überlegenheit zu verschaffen.

Mit dem Einsatz für normative Werte verbindet sich häufig die Stimmungslage des Ernstes.

Der Ernst ist durchstimmt von dem Erlebnis einer Verantwortung und Aufgabe, die die Welt und das Leben in ihr an den Menschen stellen und die ihn zum Handeln verpflichten. Mit dem Ernst kann die Sorge verbunden sein, dass unsere Bemühungen einen Fehlschlag erleiden.

 

Die Sehnsucht nach Unvergänglichkeit

Das Erlebnis der Vergänglichkeit ist – verdrängt oder nicht – ein Urerlebnis, das in jedem Menschen und zu jeder Zeit eine Grunddynamik auslöst, eine Sehnsucht nach Unvergänglichkeit, nach Erlösung aus der Relativität und Vergänglichkeit unseres individuellen Daseins. Diese Sehnsucht ist allmenschlich und unabhängig von irgendeiner religiösen oder ideologischen Definition. Sie ist zugleich eine Sehnsucht nach Glück.

Diese Sehnsucht wird virulent im künstlerischen Drang, im metaphysisch-philosophischen Streben und im religiösen Suchen.

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Der künstlerische Drang

Der Künstler will nicht einfach nur schaffen und gestalten, sondern aus dem künstlerischen Drang heraus im gestalteten Kunstwerk – konkret und intuitiv wahrnehmbar – einen überzeitlichen, ewigen Gehalt darstellen und aufzeigen. Das hier und jetzt Seiende, das Vergängliche ist ihm nur ein Gleichnis des ewig Gültigen.

Im Roman „Narziss und Goldmund“ von Hermann Hesse fragt Narziss, der Mönch, der in der Einsamkeit und Weltentrücktheit des Klosters sein Leben ganz der philosophisch-religiösen Betrachtung gewidmet hat, seinen Freund Goldmund, den Künstler, der in einem brennenden Erlebnisdrang die Welt durchstürmt hat: „Was war es denn, was die Kunst dir gebracht und bedeutet hat?“ Und Goldmund antwortet: „Es war die Überwindung der Vergänglichkeit. Ich sah, dass aus dem Narrenspiel und Totentanz des Menschenlebens etwas übrig blieb und überdauerte: die Kunstwerke. Auch sie vergehen ja wohl irgend einmal, sie verbrennen und verderben oder werden wieder zerschlagen. Aber immerhin überdauern sie manches Menschenleben und bilden jenseits des Augenblicks ein stilles Reich der Bilder und Heiligtümer. Daran mitzuarbeiten scheint mir gut und tröstlich; denn es ist beinahe ein Verewigen des Vergänglichen.“

Bei der Begegnung mit einem Kunstwerk sind wir ergriffen von einem in sich selbst bedeutsamen Urbild, einer Urwesenheit, an der wir unmittelbar aus unserer Innerlichkeit teilhaben. Das Kunstwerk ist nicht einfach ein Abbild oder Zeichen für etwas Übersinnliches oder Außersinnliches. Vielmehr klingt im Kunstwerk eine Idee, eine ewige Urform des Seienden an. Das Kunstwerk ist gleichsam ein Fenster ins Absolute. Es bringt das Wesentliche und Bleibende der Erscheinungen zum Ausdruck.

Im künstlerischen Erleben ist der Mensch aufgenommen in den Gegenstand der Betrachtung und von dessen eigener Ruhe oder Bewegung erfüllt. Die Unruhe des Suchens, Strebens und Begehrens, die Erwartung des Noch-nicht, Hoffnung, Kummer und Sorge finden wenigstens für Augenblicke ein Ende. Unser Dasein ist ausgeglichen und aufgehoben in der harmonisch sich entfaltenden Wirkung des künstlerischen Bildes.

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Das metaphysische Bedürfnis

Aus der Erfahrung, wie zufällig, vergänglich und oft auch belastend und beängstigend vieles im Leben ist, entwickelt sich eine Sehnsucht nach etwas Unvergänglichem jenseits der konkreten Erscheinung. Die Philosophie sucht jene allgemein gültigen Ideen, die das Irdische und Zeitliche übergreifen, auf dem Wege denkender Besinnung.

Schopenhauer drückt das so aus: „Ohne Zweifel ist es das Wissen um den Tod und neben diesem die Betrachtung des Leides und der Not des Lebens, was den stärksten Anstoß zum philosophischen Besinnen und zur metaphysischen Auslegung der Welt gibt.“

Die Philosophie strebt nach Erhellung des wahrhaft Seienden und findet sie im Reich der Ideen (im Sinne Platons).

In der Begegnung mit diesen zeitlosen Urbildern des Seienden wird der Mensch von Staunen und Ehrfurcht ergriffen.

In der Ehrfurcht erschließt sich uns das Wunder des Seins, das seinem Wesen nach jenseits aller rationalen Begreifbarkeit und Bestimmbarkeit liegt. In der Ehrfurcht fühlen wir uns klein gegenüber dem Transzendenten und zugleich dem zeitlichen Strom des Zufälligen und Wandelbaren enthoben. Die Ehrfurcht macht uns bereit, uns in einen höheren, über die Welt des Alltags hinausgehenden Sinnzusammenhang einzufügen.

Ehrfurcht ist nicht nur in der metaphysischen Ergriffenheit lebendig, sondern auch und vor allem in der religiösen Ergriffenheit.

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Das religiöse Suchen

Die Philosophie als kritische Prüfung des menschlichen Erkenntnisvermögens führt an die Grenze der rationalen Erkennbarkeit heran und lässt jenen Horizont sichtbar werden, in dem hinter allem Begreifbaren das Unbegreifliche spürbar wird.

So drängt das philosophische Fragen schließlich über sich selbst hinaus in das Gebiet des Religiösen, dem sie die letzten Fragen über das Absolute zu treuen Händen übergibt.

Kant schreibt in der Einleitung zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft: „Ich musste das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.“

In der Dynamik des Religiösen zeigt sich die Sehnsucht nach dem Ewigen in vollkommenster Weise und höchster Steigerung. Dieses menschliche Streben über die Grenzen des Vergänglichen hinaus sucht ihren letzten Horizont in der Idee Gottes – und dies auch dann noch, wenn der Mensch in Auflehnung oder Verzweiflung, in Skepsis oder Resignation die Wirklichkeit des Göttlichen leugnet.

Das Besondere des religiösen Erlebens liegt darin, dass das Absolute in der schwer zu beschreibenden Weise des Göttlichen, des Heiligen und Geheiligten gegenwärtig ist. Das Göttliche hat den Charakter der unerschütterlichen und höchsten Seinsfülle, vor der alle Vergänglichkeit, Fragwürdigkeit und Zerbrechlichkeit der einzelnen Erscheinungen in unserem Dasein ins Wesenlose verschwindet.

Das Wesen echter religiöser Ergriffenheit ist nicht dort erfüllt, wo der Mensch aus Furcht vor dem Schicksal seinen Gott anruft, sondern erst dort, wo er in Ehrfurcht sein Dasein rückverbunden weiß an ein höheres, umgreifendes und deshalb jenseits aller Begreifbarkeit gelegenes Sein.

Aus dieser Einstellung gewinnt der religiöse Menschen einen besonderen Halt, ein Vertrauen auf die Sinnhaftigkeit der Welt und des Schicksals, eine Unerschütterlichkeit gegenüber allen Anfechtungen und Gefährdungen.

Vor diesem Hintergrund gehört eine übergreifende Gesinnung der Mitmenschlichkeit und friedlichen Kooperation wesentlich zur religiösen Einstellung. Religiöse Betätigung hat ihr Wesen verfehlt, wenn sie beim einzelnen Menschen und zwischen Religionsgemeinschaften in Theorie und Praxis zur Ausgrenzung, Gegnerschaft und Feindschaft führt.

Was ist das Heiligste? Das, was, heut’ und ewig, die Geister
Tiefer und tiefer gefühlt, immer nur einiger macht.

(Goethe im Verszyklus „Die Jahreszeiten“)

 

Auch die Sehnsucht nach dem Unvergänglichen in Kunst, Philosophie und Religion gehört zu den ursprünglichen und originären Regungen des Menschen. Dies wird auch nicht durch die Tatsache widerlegt, dass so viele Menschen in der Behaglichkeit des sattgegessenen Leibes, im Genuss und im Bewusstsein ihres Besitzes, ihrer Macht und ihrer Geltung ihr Genüge finden.

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Gemüt und Gewissen

Ein Mensch hat Gemüt, wenn er nicht im Kalkül des Verstandes, sondern in der Tiefe seiner Seele, im Quellgebiet seiner Gefühle eine Bindung an Sinnwerte erlebt. Die Wärme des Gemütes kommt besonders dann zur Geltung, wenn sich ein Mensch im liebenden Füreinander, im Wohlwollen, im Helfenwollen, in der erotischen und humanen Liebe mit seinen Mitmenschen verbunden fühlt. Aber auch die Schaffensfreude, die Liebe zu etwas, das Staunen und die Bewunderung, das ästhetische Erleben, die Ehrfurcht als metaphysische Ergriffenheit und das religiöse Erleben sind Regungen des Gemüts.

Auf diese Weise baut sich im Inneren eines Menschen, in seinem Gefühlsbereich, eben in der Tiefe des Gemüts ein Horizont von Werten auf, der seinen Sinn und Wert in sich trägt und von dem das eigene Sein Sinn und Fülle empfängt.

Aus diesen Bindungen entspringt immer auch ein Gefühl der Verantwortung für die im Gemüt erlebten überindividuellen Werte. Dieses Verantwortungsgefühl ist verankert in dem, was wir Gewissen nennen. In diesem Sinn können wir etwa von sozialem Gewissen, von Wahrheits-, Leistungs- und Arbeitsgewissen reden.

Das Gewissen regt sich immer dann, wenn wir uns dessen bewusst werden, etwas tun zu wollen oder getan zu haben, was wir nicht tun sollen. Auch der selbstsüchtige Mensch, dem es vor allem um Genuss, Besitz, Macht und Geltung geht, kann eine solche Einsicht haben, lässt sich jedoch dadurch in seinem Gewissen nicht beunruhigen.

Wenn ein Mensch sehr stark aus dem Verstand heraus lebt und entscheidet, fehlt ihm vielleicht die Wärme des Gemüts, aber sein Gewissen ist völlig intakt. Kant hat das so ausgedrückt: „Gerade da hebt der Wert des Charakters an, der moralisch und ohne alle Vergleichung der höchste ist, nämlich dass er wohltue nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht.“

Das Gewissen stellt den Menschen vor die Frage, ob er es als sinnvoll bejahen kann, dass eine Welt ist, in der dieses oder jenes geschieht oder unterbleibt. Und er spürt, dass es auf ihn ankommt, ob es geschieht oder unterbleibt, ob also die Welt ihren Sinn erfüllt oder verfehlt.

In der Intimität der Gewissensregungen spürt der Mensch immer auch, dass es um ihn persönlich geht. Das Gewissen bringt ihm zum Bewusstsein, dass er einer ist, der dies tun will oder getan hat. Die Reue ist eine Gefühlsregung des Gewissens, in der der Mensch damit leben muss, dass er einer solchen Tat fähig war.

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Die Schicksalsgefühle

Alle Strebungen sind in die Zukunft gerichtet, um etwas, was noch nicht ist, zu verwirklichen. Ob diese Strebungen Erfüllung finden oder frustriert werden, wird – wie bei allen Strebungen – auch hier von spezifischen Gefühlen signalisiert.

 

Die Erwartung

In jedem Augenblick unseres Lebens nehmen wir unwillkürlich und automatisch an, dass das Leben in der oder jener Weise weitergehen wird. Wir sind mehr oder weniger gespannt darauf und streben mit Geduld oder Ungeduld darauf zu.

Der Geduldige hat die Ruhe und Kraft, sich auf die Gesetze des zeitlichen Verlaufs einzustellen und die rechte Zeit abzuwarten. Dem Ungeduldigen vergeht die Zeit zu langsam und vielleicht tut oder sagt er etwas, das dem erhofften Ziel abträglich ist.

Die passive Form der Geduld bewährt sich im Ertragen von Unzulänglichkeiten des Daseins, von Entbehrungen, Krankheiten usw.

Die aktive Form ist eine Geduld im Handeln. Sie bewährt sich in der Unermüdlichkeit tätiger Bemühungen und lässt sich auch durch Schwierigkeiten und Misserfolge nicht beirren.

Die allgemeine Erwartungshaltung kann zu einem kleinen Teil bewusst sein, zum größten Teil verläuft sie aber mit einer unbewussten Selbstverständlichkeit. Es ist ein allgemeines Situationsgefühl, das in jedem Augenblick unseres Lebens mitschwingt.

Kommt es anders als erwartet oder ereignet sich etwas, das mit jener unbewusst-selbstverständlichen Vorwegnahme nicht übereinstimmt, so erleben wir in höchster Bewusstheit das Gefühl der

Überraschung.

Das kann eine angenehme oder freudige Überraschung sein, oder auch eine peinliche Überraschung, die Betroffenheit und Bestürzung auslöst. In jedem Fall müssen wir uns auf die unerwartete Situation einstellen und unser Verhalten, unsere Reaktion anpassen.

 

Außer dieser eher neutralen Gefühlslage der Erwartung kann es zu positiv oder negativ gefärbten Gefühlen über die Zukunft kommen – den eigentlichen Schicksalsgefühlen der Hoffnung, der Befürchtung, der Sorge, der Resignation und der Verzweiflung.

Die Hoffnung

Dem Hoffenden präsentiert sich sein zukünftiges Leben als die Plattform, auf der er seine Ziele und Werte realisieren kann. Die Hoffnung trägt ihn, stärkt seinen Lebenswillen, setzt seine Energie frei und spornt ihn an, an den Möglichkeiten seiner Zukunft zu arbeiten.

Ein Mensch, der hofft, kann Belastungen und widrige Umstände leichter ertragen und erhöht seine Chance, auch tiefe und gefährliche Krisen zu überwinden. „Wer ein WARUM zum Leben hat, erträgt fast jedes WIE.“ (Nietzsche)

Die Hoffnung hat einen Zwilling: die Enttäuschung. Nur wer hofft, kann enttäuscht werden.

Befürchtung und Sorge

Die Befürchtung bedeutet nicht eine bloße Minderung der Hoffnung, die zu dem Gefühl führt, dass einem im Horizont der Zukunft die Realisierung so mancher oder gar vieler erstrebter Werte versagt bleibt.

Vielmehr kehrt sich in der Befürchtung die Hoffnung um in das Gefühl, dass der bestehende Wertbesitz in der Zukunft bedroht ist.

Befürchtung ist etwas anderes als Furcht, in der wir konkret eine Bedrohung im Bereich der Selbsterhaltung erleben. Der Werteverlust, der in der Befürchtung droht, betrifft Werte aus der ganzen Palette der Strebungen und Gefühlserlebnisse, die wir in der Rede vom Willen zur Lust, zur Macht und zum Sinn besprochen haben. Außerdem richtet sich die Befürchtung auf einen viel weiteren zeitlichen Horizont der Zukunft als die Furcht. Im Gegensatz zum Sich-fürchten kann sich die Befürchtung auch auf den Wertbesitz anderer Menschen beziehen.

Die Befürchtung bewirkt ein Zögern auf der Schwelle der Zukunft, ein Nichtherauswollen aus der Geborgenheit der Gegenwart. Aus der Befürchtung heraus erwächst die Sorge.

Die Sorge überwindet das passive Zögern und will aktiv schützende Vorkehrungen treffen für die Begegnung mit der Zukunft.

In der Schicksalsfurcht - einer Steigerungsform der Befürchtung – geht es um das eigene Sein und sein Schicksal. Die Schicksalsfurcht richtet sich auf alle Arten des Unterliegens im Kampf um Leben und Existenz, auf Krankheit, Verarmung, Misserfolg usw. In der Schicksalsfurcht kann der Mensch seinen Blick nicht mehr losreißen von der Fülle möglichen Wertverlustes und möglicher Bedrohung im Horizont der Zukunft. Und – noch schlimmer – er kann sich auch der Gegenwart nicht mehr erfreuen.

Manche Menschen versuchen, der Schicksalsfurcht zu entfliehen und den Blick von der Zukunft loszureißen, indem sie sich in die Betäubung des Vergnügens stürzen.

Resignation

In der Resignation sieht der Mensch keine Chance, erstrebte Werte des Lebensgenusses, der Ichdurchsetzung oder der Sinnerfüllung zu verwirklichen. Er fühlt sich innerlich arm und leer, ohne Zukunft, ohne Möglichkeit.

Dadurch verliert seine gesamte Lebensführung und Lebensgestaltung an Kraft und Unmittelbarkeit der Antriebe. Er spürt eine tiefe Müdigkeit, fühlt sich wie gelähmt und muss sich zu den Handlungen und Verrichtungen seines Lebens mehr oder weniger zwingen.

Trotzdem ringt sich der Resignierte durch, die Last und Aufgabe des Lebens zu tragen, teils aus Einsicht in die Notwendigkeiten der Lebensführung, teils aus einem Verbindlichkeits- und Verantwortungsbewusstsein seiner Um- und Mitwelt gegenüber.

In der Resignation bleibt der Wille zum Dasein erhalten, das Leben geht weiter. Das unterscheidet sie von der Verzweiflung.

Verzweiflung:

Für den Verzweifelten bietet die Zukunft das Bild der absoluten Ausweglosigkeit. In diesem Gefühl der Unentrinnbarkeit sieht er seinen Weg in die Zukunft unwiderruflich verbaut und verstellt. In seiner Vorstellungswelt kommt keine Überlegung und kein Entschluss mehr auf, die ihn aus der Umklammerung durch diese Ausweglosigkeit befreien könnten.

Verzweiflung kann eintreten beim Verlust des rein biologisch-kreatürlichen Existenzminimums, aber auch wenn keine Aussicht besteht, Werte des Besitzes, der Macht, der Geltung oder Werte der Sinnerfüllung zu erlangen. Besonders auch der Verlust der Ehre oder der Verlust der Sinnerfüllung in der Liebe zu einem Menschen kann zur Verzweiflung führen.

Solche Erlebnisse des Scheiterns und die damit verbundene fundamentale Erschütterung und Krise des Lebens drängen dazu, das Dasein selbst aufzugeben.

Die existenzielle Krise der Verzweiflung kann aber auch ein Wendepunkt sein, in dem ein Mensch den eigentlichen Schwerpunkt seines Lebens und seiner Bestimmung findet und erfährt, auf welche Sinnwerte sein Leben wirklich angelegt ist.

 

Das Weltgefühl

Optimismus und Pessimismus, das nihilistische Weltgefühl und das Weltgefühl des Humors sind tiefgehende und nachhaltige Stimmungslagen, die der Mensch in der Begegnung mit jenen Werten erlebt, aus denen sein Dasein Sinn und Gehalt empfängt.

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Optimismus und Pessimismus:

Das sind Stimmungslagen, die sich daraus ergeben, wie ein Mensch die künftigen Verhältnisse und Umstände, also das was von der Zukunft zu erwarten ist, beurteilt.

Der Optimist betrachtet das, was im Hinblick auf die Zukunft unbestimmt bleibt, mit dem Blick der Hoffnung und Zuversicht.

Der Pessimist enthält sich misstrauisch jeder Hoffnung und rechnet nur mit dem „pessimum“, mit den schlechtesten Möglichkeiten.

Diese optimistische oder pessimistische Sicht kann von Fall zu Fall im Hinblick auf eine bestimmte Situation auftreten. Sie kann aber auch zu einer Dauerhaltung werden und äußert sich dann als grundsätzlicher Optimismus oder Pessimismus.

Der grundsätzliche Pessimismus ist von der subjektiven Gewissheit durchdrungen, dass der Tatbestand der Welt unzulänglich, vom Verlauf der Dinge nichts Gutes zu erwarten und das Dasein des Menschen in dieser Welt nur eine Kette der Not und des Leides sei.

Im resignierenden Pessimismus verbindet sich die ungünstige Beurteilung dessen, was zu erwarten ist, mit dem Gefühl der Resignation.

Im räsonierenden Pessimismus macht sich in dem ständig wiederholten Hinweis auf die Unzulänglichkeit und Schlechtigkeit der Welt ein Gefühl der Verbitterung Luft. Hier schwingt der Unterton der Unzufriedenheit und des beleidigten Protestes mit, weil aus der Sicht des räsonierenden Pessimisten die Welt seine berechtigten Forderungen nicht erfüllt hat.

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Das nihilistische Weltgefühl:

Der Nihilismus gipfelt in der Überzeugung, dass hinter allem, was der Mensch wollen und vom Leben erwarten kann, die trostlose Leere absoluter Sinnlosigkeit steht.

Damit bringt der Nihilist zum Ausdruck, dass es nichts gibt, wofür zu leben sich lohnt. Für den Nihilisten gibt es nichts, was den Menschen über sich selbst hinausruft.

Da sich der Mensch in der existenziellen Angst von einem namenlosen Nichts bedroht fühlt, ist es verständlich, dass das Weltgefühl des Nihilismus mit dem Lebensgefühl der Angst verbunden ist.

Somit geht der Nihilismus mit einer Verarmung des Gemütes einher, besonders mit dem Verlust der Liebesfähigkeit und der Fähigkeit zu religiösem Erleben. Der Nihilismus ist in seiner letzten Wurzel Gottverlassenheit.

Die letzte Konsequenz des Nihilismus wäre die totale Verzweiflung, in der sich das sinnlos gewordene Dasein durch die Selbstvernichtung aufgibt. Aber dagegen protestiert zumeist der Wille zum Leben. Das veranlasst den Nihilisten, einen modus vivendi zu finden.

Ein Nihilist kann vielleicht seinen Halt in der Genugtuung finden, dass er die Sinnlosigkeit des Lebens und der Welt ohne Illusionen durchschaut und mit einem Lächeln der Ironie und des Sarkasmus darüber hinweg geht.

Ein anderer beschreitet vielleicht den Weg der Auflehnung und Empörung gegen alles Bestehende und Geltende nach dem Motto: „Ich bin der Geist, der stets verneint!“

Es gibt aber noch einen dritten Weg, nämlich die Möglichkeit, ja zu sagen zur Sinnlosigkeit des Daseins, sie als Schicksal zu akzeptieren und in einem entschlossenen Trotzdem weiter zu leben.

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Das Weltgefühl des Humors:

Der Humor als Weltgefühl entspringt dem Lebensgefühl der Heiterkeit, ist aber nicht mit ihm identisch. Im Licht der Heiterkeit blickt der Humor hinaus über alle Beengtheit auf den Reichtum der Welt und gewinnt daraus seine bejahende Kraft. Er ist erfüllt von der Gewissheit, dass alles gut ist, weil es in der Gnade des Daseins steht.

Der Humor ist sich der Not, des Leidens und des Bösen in der Welt durchaus bewusst, weiß aber auch, dass diese nicht die letzten Tatsachen des Lebens sind. So teilt er den Dingen das Maß ihrer Wichtigkeit zu und lässt sich nicht vom Anspruch angemaßter Wichtigkeiten imponieren.

Der Humor sieht hinter die Fassade und entlarvt alles Pathos, alle Selbsttäuschungen und Illusionen, die sich der Mensch über sich selbst und über die Welt macht. Aber das, was dahinter zum Vorschein kommt, betrachtet er aus der Kraft seines Weltgefühls mit dem Blick der Güte. Er hat den Willen, ohne Illusionen zu leben, und die Kraft, dennoch das Leben zu bejahen.

Wo er nicht darum herumkommt, Kritik zu üben, da geschieht es immer, ohne weh zu tun, im Bewusstsein gemeinsamer Verantwortung. In seiner Kritik liegt etwas Versöhnliches, die Gesinnung der Nachsicht und Güte, das Verständnis des großen Mitgefühls, der Duldsamkeit und Geduld, ein Geltenlassen dessen, was ist, trotz aller Unzulänglichkeiten – einfach deshalb, weil es ist und zum Bereich des Menschlichen und Irdischen gehört.

Im Gegensatz zum Nihilismus mit seiner Liebesunfähigkeit und Gemütsarmut lebt der Humor gerade aus der Kraft der Liebe. Liebe aber ist immer ein Jasagen zu dem, was ist, so wie es ist, und eine Freude darüber, dass es ist.

Der innerste Wesenskern des Humors aber liegt in der Kraft des religiösen Erlebens. Der Humor sieht das Irdische und Menschliche in seiner Unzulänglichkeit zu Gott. Aber er sieht es aus seinem Weltgefühl heraus im Spiegel der Liebe Gottes zu seiner Schöpfung, ohne freilich deshalb von Gott reden oder zum Theologen werden zu müssen. So ist die Weltliebe des Humors zugleich auch Weltfreude, erfüllt von der Dankbarkeit, in dieser unvollkommenen Welt leben zu dürfen.

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